
Karl Bauer: Friedrich Nietzsche, 1902
Nietzsche, Weimar und das Zeitalter der Extreme
Wie ein unbekannter philosophischer Schriftsteller zum kulturellen Weltereignis wurde
Am 25. August 1900 ist Friedrich Nietzsche in Weimar gestorben. Nach Weimar hat ihn erst seine Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche gebracht, nachdem sie 1897 in der Villa Silberblick ihr Nietzsche-Archiv einrichtete. Dort verbrachte der seit 1889 geistig umnachtete Nietzsche die letzten drei Jahre seines Lebens als Pflegefall. Nietzsche kam aber nicht nur zum Sterben nach Weimar. Als Kind besuchte er ab und an Verwandte in der Klassikerstadt und zu Weihnachten 1873 hat er sich in Weimar eine Aufführung von Wagners Oper „Lohengrin“ angehört. Damals hat er Richard Wagner noch bewundert.
Über Cosima Wagner wird er auch mit Franz Liszt bekannt, dessen Musik ihm allerdings zu seicht und gefällig ist. Von den Weimarer Klassikern zollte er nur Goethe zeitlebens Respekt. Wieland hingegen habe nichts Neues zu sagen, auch Herder sei veraltet, und für Schiller, den „Moral-Trompeter aus Säckingen“, hatte er meist nur Spott übrig. Als Weimarer hat sich Nietzsche jedenfalls weder biographisch noch kulturell verstanden.
Neuer Stil und Neues Weimar
Nach dem Ausbruch des ersten Weltkriegs kommt diese kosmopolitische und interkulturelle Konstellation zu einem Ende. Dem Krieg im Sinne von persönlichem Wettkampf und Selbstüberwindung hat Nietzsche eine wichtige kulturelle Funktion beigemessen, den nationalistischen Furor hingegen erkannte er schon 1871 als Ausdruck geistloser Degeneration. Dennoch wird Nietzsche vor allem in Großbritannien als deutscher Kriegsverherrlicher wahrgenommen, und das Nietzsche-Archiv positioniert sich mit äußerst erfolgreichen Frontausgaben des Zarathustra entschieden auf der patriotischen Seite in diesem Kampf um Nietzsche. Es ist jedoch ein Missverständnis, zu glauben, in den Gräben bei Verdun sei Platz für heroische Individualität.

Elisabeth Förster-Nietzsche, um 1910, Foto: Louis Held

Adolf Hitler im Nietzsche-Archiv neben einer Nietzsche-Büste von Fritz Röll, 1932, © Klassik Stiftung Weimar
„Wegbereiter des Faschismus“?
In der Weimarer Republik wird der Name Nietzsches von den unterschiedlichsten politischen und kulturellen Lagern ins Feld geführt, bis diesem turbulenten Krieg der Geister 1933 ein Ende gemacht wird. Die Nationalsozialisten, die in Thüringen früher als andernorts an die Macht kamen, integrierten gerne die prestigeträchtigen Weimarer Institutionen in ihre Kulturpolitik und auch das Nietzsche-Archiv diente sich bereitwillig der neuen Führung an. Die Philosophie Nietzsches ist ebenfalls nicht nur unschuldig unter die Nazis geraten, so wenig wie die von Platon oder Hegel. Trotzdem ist bezeichnend, dass die von lokalen NS-Größen in Weimar errichtete Nietzsche-Gedächtnishalle unvollendet blieb. Die Nazis wollten und brauchten keinen allzu komplexen Hausphilosophen und Nietzsche seinerseits verachtete Antisemitismus, Nationalismus und Deutschtümelei. Vor allem ist Nietzsches Denken nicht vereinbar mit dem Ziel homogener Kollektive, darin sieht er das Ideal der im Wortsinne einfältigen Herde.
Nach der menschlichen und kulturellen Katastrophe und dem Ende des zweiten Weltkriegs wollte kaum mehr jemand Nietzscheaner sein. In der DDR galt Nietzsche mehr als andere Denker als „Wegbereiter des Faschismus“ (Wilhelm Pieck, 1946). Sein Sterbezimmer wurde abgeräumt und das Nietzsche-Archiv aufgelöst, selbst der Schriftzug an dem Gebäude wurde entfernt. Mit dem Ende des Kults ging der Versuch einher, auch die inhaltliche Auseinandersetzung mit Nietzsches möglichst zu unterbinden. Nietzsche war damit in der DDR auf seine vielleicht beliebteste Rolle abonniert: subversive Dissidenz. Dennoch konnten die italienischen Forscher Mazzino Montinari und Giogio Colli ab 1965 in Weimar an einer Gesamtausgabe seiner Schriften arbeiten, die im Westen erschien. Vorsichtige Ansätze zu einer Revision des marxistischen Nietzsche-Bildes in den 1980er Jahren werden durch das Ende der DDR obsolet.

Melusine Brant: Illustration zu “Also sprach Zarathustra”
Nach wie vor ein Unruhe-Stifter
Heute ist Weimar ein zentraler Ort der internationalen Nietzscheforschung. In den Nietzsche-Beständen des Goethe-Schiller-Archivs wird an den kritischen und digitalen Editionen seiner Texte gearbeitet. Die Herzogin Anna Amalia Bibliothek hält die weltweit größte Sammlung an Sekundärliteratur bereit und stellt Interessierten auf aller Welt die Weimarer Nietzsche-Bibliographie zur Verfügung. Das historische Nietzsche-Archiv ist als Museum öffentlich zugänglich und das Kolleg Friedrich Nietzsche pflegt die Debatte mit und über ihn. Nietzsche ist als Klassiker in der Normalität des akademischen Betriebs angekommen. Zugleich stiftet er nicht nur dort nach wie vor Unruhe. Der Dichter-Philosoph bleibt ansteckend und verwirrend. Sein Denken ist und bleibt von Interesse, weil er eine Zeit kritisch in Gedanken fasst, die in wesentlichen Zügen die unsere ist, und weil seine Fragen weiterhin herausfordernd sind. Anhand der Wirkung- und Rezeptionsweisen Nietzsches kann man eine Geschichte der letzten 120 Jahre erzählen und Nietzsche ist in keine dieser Konstellationen (im Guten wie im Bösen) bloß zufällig geraten. Auch darin gleicht er Weimar.
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