
Ausstellung „Mut zum Chaos“
#3 | Chaos. Ottilie von Goethes Journalpoetik
Der Titel des von Ottilie von Goethe gegründeten Journals „Chaos“ kennzeichnet ein poetisches Programm. Was es damit auf sich hat, erklärt Literaturwissenschaftlerin Astrid Dröse.
Von September 1829 bis November 1831 erschien in Weimar wöchentlich ein sonderbares Journal. Sein Name ist Programm: Chaos. Herausgeberin und Chefredakteurin war Goethes Schwiegertochter Ottilie. Bis heute gibt das Zeitschriftenprojekt Rätsel auf: Welches Konzept steht hinter dem babylonischen Sprachengewirr, der bunten Mischung verschiedener Beiträge, deren Verfasserinnen und Verfasser sich gleichsam maskiert, hinter mysteriösen Namen verbergen? Wer durfte die wenigen Exemplare lesen und welche Rolle spielte Goethe bei all dem?
Gründungsszene
In den Erinnerungen an ihre Jugend im Weimar der späten 1820er Jahre beschreibt Jenny von Gustedt, geborene Rabe von Pappenheim, folgende Szene: „Wir saßen ziemlich einsilbig bei Ottilie im Mansardenstübchen [...]. Eckermann [...] kam ebenfalls hinauf und sah betrübt aus dem Fenster. ‚Es regnet‘ sagte er. ‚It rains!‘ wiederholte Parry. ‚Il pleut!‘ lachte Soret. Ottilie, ärgerlich über diese animierte Unterhaltung schlug vor, irgend etwas zu erfinden, um die einschlafende Gesellschaft wieder aufzurütteln. Nach langem Hin- und Herreden wurde ein ‚Musenverein‘ feierlich gegründet [...] der nur noch einmal zusammen[kam], um dann dem ‚Chaos‘ Platz zu machen, das nun während fast zwei Jahren im Mittelpunkt unseres Interesses stand.“
Diese Anekdote ist vermutlich frei erfunden, aber sie erfasst pointiert die Stimmung im biedermeierlichen Weimar. Die damals 19-jährige Jenny von Gustedt gehörte zu jenem geselligen, internationalen Kreis um Ottilie von Goethe, der im Sommer des Jahres 1829 beschloss, ein eigenes Journal mit dem Namen Chaos zu gründen. Am 28. August 1829, Goethes 80. Geburtstag, wurde der Plan gefasst, bereits am 13. September erschien das erste Heft.
Ottilie stellte als „Direktor“ – wie sie sich selbst nannte – die Statuten auf: 1. Das Journal darf nur von den Mitwirkenden selbst gelesen werden, Weiterreichen ist strengstens untersagt, 2. Die Wahl der Sprache ist frei, 3. Die eingesandten Beiträge dürfen noch nicht publiziert worden sein. Chaos richtete sich somit, anders als die üblichen Journale der Epoche, nicht an ein breites, anonymes Publikum. Es ging gerade nicht um Kommerz und die Platzierung auf dem umkämpften Literaturmarkt. Im Gegenteil: Das exquisite Journal war nur für einen vertrauten Kreis bestimmt, in dem jeder jeden kannte.
Mummenschanz im Journal
Diese Form kollektiver Autorschaft und geselliger Rezeption wäre jedoch schnell langweilig geworden, wenn es nicht ein viertes Gesetz gegeben hätte: Alle Mitwirkenden sollten anonym oder unter Pseudonym publizieren. Das war der eigentliche Clou: Die Liebe der Weimarer Gesellschaft zu Maskenball und Mummenschanz wurde in ein journalpoetisches Grundprinzip übersetzt. Wer aber verbirgt sich hinter den unzähligen Pseudonymen wie „Elvira“, „Viator“, „Adoro“, „Perigrinator“, „Honorius“, „Calabri“, „Philochaoticus“, oder „Chaokles“, hinter den Chiffren und anonym publizierten Gedichten, Liedern, Reiseberichten und Briefen?
Einige der erhaltenen Chaos-Exemplare weisen Benutzungsspuren mit Notizen auf. So wissen wir zum Beispiel, dass sich hinter „Adoro“ Ottilies Ehemann, August von Goethe, verbirgt. Ottilie selbst veranstaltete gerne ein Versteckspiel und schlüpfte in die Rolle eines Engländers mit dem Phantasienamen „Henry Daventry“. Diese Tarnung gab ihr die Möglichkeit, gehörig über das „village“ Weimar zu lästern. So bedauert Daventry einen hier lebenden Landsmann, der wie alle Deutschen bald nur noch für „tabbacco and moonshine“ schwärmen würde. Und die Weimarinnen seien gewiss „very strong, heavy creatures“, die man beim Walzertanzen nur mit großen Mühen in die Luft heben könne.
Auch Johann Wolfgang Goethe beteiligte sich am Chaos. Er blieb am liebsten anonym oder zeichnete mit der Chiffre „6.7.8“. Man staunt ohnehin nicht schlecht, wer sich außerdem in Ottilies Journal verewigt hat: Adelbert von Chamisso, William Makepeace Thackeray, Friedrich de la Motte Fouqué, Karl Ludwig Knebel und der in dieser Zeit in Weimar weilende Felix Mendelssohn Bartholdy – um nur einige prominente Namen zu nennen. Bei den rund 25 Autorinnen von Chaos handelt es sich aber vor allem um junge Frauen wie Herders Enkelin Natalie, die Schwestern Caroline, Julie und Auguste von Egloffstein oder Adele Schopenhauer. Damit erweist sich das Journal auch als ein bemerkenswertes Zeugnis für das ‚Weibliche Weimar‘.

Im Journal Chaos sollte nur anonym publiziert werden. Wer steckt hinter den Pseudonymen?

Im Journal Chaos sollte nur anonym publiziert werden. Wer steckt hinter den Pseudonymen?
Chaos als Programm
Warum nun aber eigentlich der provozierende Name „Chaos“? Darauf gibt das Prolog-Gedicht eine rätselhafte Antwort:
„Ihr staunt vielleicht, dass ich mich Chaos nenne?
Ihr Menschen!? – Weil Ihr Form und Regel sucht
Und zweifelnd lächelt, wo die beiden fehlen.
(Obwohl Ihr gegen beide gern verstosst,
Dürft Ihr es heimlich nur und sicher thun.) […]“
Die Zeitschrift lockt mit einem Angebot: Im postklassischen Weimar bekennt man sich, so der Unterton, zu einer Ästhetik im Zeichen von „Form und Regel“, aber heimlich lieben alle das Chaotische. „Vermummt in fremden Namen“ zu schreiben, so heißt es im Gedicht weiter, entlaste von gesellschaftlichem und ästhetischem Zwang: Name, Geschlecht, Nationalität – alles ist im „Chaos“ Schall und Rauch. Für die Romantiker stellt Chaos sogar eine ästhetische Leitkategorie dar, wie Friedrich Schlegel an anderer Stelle schreibt: „Chaos ist wohl die beste Erklärung des Romantischen“.
Der Prolog ist nicht der einzige Text, der im Chaos über Chaos reflektiert. Die Mitwirkenden potenzieren das chaotische Verwirrspiel, bis ihnen schwindelig wird: „Der Wahnsinn, welcher im Prologe angekündigt ward, bewährt und bestätigt sich schon an mir, ... erstes Opfer des Chaos“, schreibt ein „H. v. R.“ im fünften Heft. Im 15. Heft präsentiert ein gewisser „Chaokles“ ein Akromesotelostichon: Das Buchstabenrätsel verweist auf die Theogonie des Hesiod, das Epos von der Entstehung der antiken Götterwelt aus dem Chaos.

Chaos-Akromesotelostichon in Chaos Nr. 15, 1829
Babylon Weimar und Weltliteratur
In jedem Heft von Chaos sind verschiedene Sprachen – Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, sogar Spanisch, Latein und Altgriechisch – vertreten. Diese Polyglossie spiegelt die Zusammensetzung der Mitwirkenden, Vertreter der internationalen community Weimars dieser Zeit. Bei den fremdsprachigen Beiträgen handelt es sich um Originalbeiträge und viele Übersetzungen, insbesondere von Texten Goethes.

Gretchen am Spinnrad / Margaret at the spinning Wheel. Übersetzt von Samuel Naylor für Chaos Nr. 52, 1830
Hervorzuheben sind die gelungenen Übersetzungen ins Englische. Sie stammen von jungen Briten – wie etwa Samuel Nayler, der Gretchen am Spinnrad übertrug –, die sich zu Bildungszwecken in Weimar aufhielten und zu denen die anglophile Ottilie besondere Nähe pflegte. Das Journal präsentiert sich auf diese Weise ganz im Sinne Goethes als dynamisches Organ einer künftigen Weltliteratur.
Divan-Apokryphen und Paganini
Auch Goethe war dem Projekt von Anfang an zugetan und beteiligte sich gerne. Viele seiner Chaos-Gedichte stehen dabei im Kontext des West-östlichen Divan. Noch in der Ausgabe letzter Hand (1827) hatte Goethe in der Prosabeilage Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des west-östlichen Divans auf das Vorhaben eines Künftigen Divan verwiesen und den Divan als ein „Manuskript für Freunde“ bezeichnet. Das war freilich eine mediensentimentalische Fiktion. Für das Chaos, das als Privatdruck im intimen Zirkel gelesen wurde, ließ sich Goethes Manuskript-Phantasie aber umsetzen. Geht man die Goethe-Beiträge in Chaos durch, hat man geradezu das Gefühl, es hier mit Divan-Apokryphen zu tun zu haben, beziehungsweise um Ergänzungen für einen künftigen Divan, die Goethe in der Zeitschrift seiner Schwiegertochter aufbewahrt wissen wollte.
Den Vierzeiler Mit einem Blatt Bryophyllum calycinum hatte er einst Marianne von Willemer, der Mitautorin und Adressatin des Divan, gesandt. Es würde sich in seiner pointierten Symbolik bestens in das Buch der Sprüche einfügen. Und für eine Erweiterung des Buchs Suleika, den Teil des Divan, in dem Goethe Marianne von Willemers Verse platziert hatte, käme ein Gedicht in Frage, das als ein besonderes Glanzstück des Chaos gelten kann: „Das Heidelberger Schloss“ (Heft Nr. 3, 1830). Es stammt von keiner anderen als von der Divan-Autorin selbst. 1824 hatte sie es Goethe zu dessen 75. Geburtstag geschickt, dieser zog es 1830 offenbar aus der Schublade hervor, korrigierte es und gab es Ottilie für Chaos. In einer Strophe spielt Marianne von Willemer direkt auf das berühmte Gingko-Gedicht Goethes an:
„Dort jenes Baumsblatt, das aus fernem Osten
Dem westöstlichen Garten anvertraut,
Gibt mir geheimer Deutung Sinn zu kosten,
Woran sich fromm die Liebende erbaut.“

Eine Divan-Apokryphe? Chaos Nr. 38, 1830
Und Ottilie selbst? Gemeinsam mit ihrem Schwiegervater redigierte sie voller Eifer die eingereichten Beiträge, während vermutlich parallel über die Vollendung des Faust II gesprochen wurde – der übrigens auch geheimnisvolle Spuren in Chaos hinterlassen hat. Über die Texte, die nach Goethes kritischer Durchsicht nicht für die Publikation angenommen wurden, pflegte Ottilie zu sagen: „Wir haben sie durch das Fegefeuer geschickt“.
Viel Zeit für eigene Kreativität blieb da nicht. Doch finden sich etwa ein Dutzend Beiträge, für die die Autorschaft Ottilies als gesichert gilt. Oft schlägt sie einen satirischen Ton an, aber auch empfindsame Liebesgedichte sind vertreten. Von ihrem poetischen Talent zeugt das Gedicht Noch einmal Paganini, das auf das Konzert des berühmten Geigenvirtuosen am 30. Oktober 1829 in Weimar Bezug nimmt. Hier scheint sie auch dem verehrten „Vater“ einmal widersprechen zu wollen, hatte Goethe sich doch über den exzentrischen Auftritt des Teufelsgeigers despektierlich geäußert. Dagegen zeugt Ottilies Gedicht von Sympathie für den Künstler mit der dämonischen Aura:
„Die Hölle nicht, - es ist das Leben
Mit seiner stummen, tausendfachen Quaal
Die ihm den wilden Schmerzenslaut gegeben,
den Seufzerhauch, - der Tonkunst lichten Strahl[.]“
Feststeht, dass Goethe dem Projekt seiner Schwiegertochter zugetan war. „Es ist doch hübsch von meiner Tochter“, teilte er Johann Peter Eckermann am 5. April 1830 mit, „und man muß sie loben und es ihr Dank wissen, daß sie das höchst originelle Journal zustande gebracht [hat]“.
Aktuelle Stories

Christoph Wilhelm Hufeland

Neuzugänge im Archiv

Neuerscheinung

Lyrik für Charlotte von Stein