Krieg und Sprache

#3 | Pannotschka: Aufstand der Untoten

14.12.2022 4

„Nach vielen Jahren, kurz nach dem russischen Angriff, bedeutete für mich der Augenblick, als die Hexe im Sarg plötzlich wach wurde, einen Umbruch, wo sich die Ohnmächtigkeit der Schönen als täuschend erweist“, schreibt Kateryna Mishchenko in ihrem dritten Beitrag zum Krieg in der Ukraine.

Mein biologischer Wecker holt mich oft um vier Uhr morgens aus dem Schlaf, damit ich schnell bei Telegram schaue, wo Medien kurze Nachrichten posten. Manchmal fällt mir die schwarze tröstende Ironie auf, mit der über den Feind geschrieben wird: Hier die frischen Zahlen über russische Verluste zu Ihrem Morgenkaffee. Heute würde so und so viel Technik „entmilitarisiert“ und so und so viel Personal „entnazifiziert“. Oder „subtrahiert“, oder „ins Konzert von Kobson geschickt“. Iosif Kobson (1956 bis 2018) war ein sowjetisch-russischer Sänger und Politiker, geboren im Donbas, in Tschasiw Jar übrigens, wo im Juli russische Raketen fast 50 Tötungen und viele Zerstörungen hervorbrachten. Kobson war ein Putinist und großer Unterstützer des Russland-Krieges im Donbas. Sein „Konzert“ ist ein Euphemismus für die besondere Hölle russischer Besatzer. Die Hölle des Krieges erzwingt die Entstehung einer höllischen Sprache, die auch beim Gegenkampf verinnerlicht wird.

In meinen Assoziationen mit düsterer Ironie komme ich auf die Figuren des Unheimlichen von Nikolai Gogol. Vielleicht durch seine symbolische Omnipräsenz in meiner persönlichen Biografie, da seine Heimatregion Poltawa auch meine ist. Im berühmten Dykanka, das die Welt von seinem ersten Buch Abende auf dem Weiler bei Dikanka kennt, hatte ich meinen ersten Job als Dolmetscherin. Eine der Städte im Gebiet Poltawa, die in den zurückliegenden Monaten bombardiert wurde, ist Myrhorod, wo Gogol geboren wurde. Myrhorod oder – in Transliteration aus dem Russischen – Mirgorod ist auch Titel seiner Sammlung kurzer Erzählungen, über die ich in diesen Monaten sehr viel nachdenke. Es geht nämlich um eine Erzählung: Der Wij, und um ihre Verfilmung. Eigentlich um ein konkretes Bild: Die schöne Hexe im Sarg verkörpert in meiner Vorstellung die Energie des ukrainischen Widerstandes.

„Ob es dir gefällt oder nicht, halte es aus, meine Schöne.“ Vor der russischen Invasion wusste ich nur, dass diese Aussage Putins über die Verhandlungen mit der Ukraine auf eine Zeile aus dem obszönen Lied über die begehrte Schlafende im Sarg zurückzuführen ist. Wenn auch dieses „Aushalten“ eher Teil des Lebensprogramms in Russland war, wurde das Bild der Schönen damals an die Ukraine adressiert.

Die Objektivierung der Angegriffenen durch Feminisierung ist im Grunde nichts Neues, genauso wie die angedeutete Vergewaltigung als Demonstration der Macht. Sarg als Raum ist auch nicht zufällig. Es soll ein von der russischen Machtelite bestimmter Ort sein, in den die Gesellschaft als solche und die ukrainische insbesondere reingepresst wird. Sarg ist das Gegenteil von kitschigen Riesen­palästen, deren Besetzung diese Elite durch Kriege legitimiert. Und zu Beginn des großen Krieges verstand ich, um welche Schöne im Sarg es sich in unserer kulturellen Imagination handeln könnte. Es war Gogols Hexe, Pannotschka, junges Fräulein, das mich als Kind in Angst und Begeisterung versetzte.

Der Wij, König von Zwergen, kommt auf den Ruf der Hexe in die Kirche, um den dort betenden Philosophiestudenten Choma mit seinem Blick zum Tode zu verurteilen. Einige Tage zuvor hatte Choma bei einer alten Frau übernachtet, die ihn überfiel und sich als Hexe geoutet hatte. Nachdem der Student sie totgeschlagen hatte, entpuppte sie sich zu einer jungen Schönheit. Es stellte sich heraus, dass das Mädchen Tochter eines Hauptmannes ist, der nun fordert, dass Choma drei Nächte am Sarg betet, damit die Seele seiner geliebten Tochter ihre Ruhe findet.

Die Verfilmung vom Wij, deren Screenshots hier das Fräulein darstellen, kommt aus dem Jahr 1967. Wij soll einer der ersten sowjetischen Horrorfilme sein. Als ich klein war, schien er wirklich erschreckend. Ich konnte mich nie trauen, den unheimlichen Wij anzuschauen. Nach vielen Jahren, kurz nach dem russischen Angriff, bedeutete für mich der Augenblick, als die Hexe im Sarg plötzlich wach wurde, einen Umbruch, wo sich die Ohnmächtigkeit der Schönen als täuschend erweist und sie sich ihrer Objektivierung entgegensetzt und zurückschlägt.

Dabei vertritt das Fräulein, auf Ukrainisch Pannotschka, die Community von Untoten, also denjenigen, die weder lebendig noch tot sind. Das Ziel des heutigen genozidalen Krieges gegen die Ukraine ist, allen das Leben zu nehmen, wenn nicht unmittelbar physisch, dann psychisch und sozial, also Menschen untot zu machen. Die Untoten tragen den Schmerz schrecklicher Verbrechen mit sich, die gegen sie begangen wurden. Sie stehen für beides – Erinnerungen an die Gräueltaten und Waffen dagegen. In der Tradition des Horrors sind es meistens Zombies, die die Unter­drückten vertreten und revoltieren. Die Untoten sind keine „positiven“ Figuren, sie weisen auf das verdrängte Leiden hin, und die Kulisse, in der um die Gerechtigkeit gekämpft wird, ist höllisch.

Dabei vertritt das Fräulein, auf Ukrainisch Pannotschka, die Community von Untoten, also denjenigen, die weder lebendig noch tot sind. Das Ziel des heutigen genozidalen Krieges gegen die Ukraine ist, allen das Leben zu nehmen, wenn nicht unmittelbar physisch, dann psychisch und sozial, also Menschen untot zu machen. Die Untoten tragen den Schmerz schrecklicher Verbrechen mit sich, die gegen sie begangen wurden. Sie stehen für beides – Erinnerungen an die Gräueltaten und Waffen dagegen. In der Tradition des Horrors sind es meistens Zombies, die die Unter­drückten vertreten und revoltieren. Die Untoten sind keine „positiven“ Figuren, sie weisen auf das verdrängte Leiden hin, und die Kulisse, in der um die Gerechtigkeit gekämpft wird, ist höllisch.

Anmerkung:

Der Film „Wij“ ist als Blu-ray und DVD erhältlich bei Camera Obscura. Wir bedanken uns für die Nutzungsrechte der Abbildungen.

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