
Kolonie „Nueva Germania“
Paradies oder leere Versprechung?
Nietzsches Schwester Elisabeth wanderte 1886 mit ihrem Ehemann Bernhard Förster nach Paraguay aus, um dort die völkische Kolonie Nueva Germania zu gründen. Diese wurde kontrovers diskutiert, so auch von dem Siedler Julius Klingbeil. Sein Buch erregte 1889 großes Aufsehen.
„Den Eheleuten Förster wird kein Mensch das Talent sich in jeder Lage zu helfen, bestreiten, aber wissentlich jenen einfachen Menschen, die so schon so tief in´s Elend gebracht waren, jenen Unglücklichen auch noch dieses Wehe anzuthun, empörte mich auf´s Höchste.“
Mit diesen Worten drückte der Siedler Julius Klingbeil seinen Ärger über Elisabeth und Bernhard Försters Kolonie Nueva Germania aus. Unzufrieden mit den dort vorgefundenen Verhältnissen, hatte er es sich zum Ziel gemacht, alle deutschen Auswanderer vor den „Unholden in der Kolonie“ zu waren. Zu diesem Zweck verfasste er ein Buch, das unter dem Titel Enthüllungen über die Dr. Bernhard Förster'sche Ansiedelung Neu-Germanien in Paraguay im Jahr 1889 erschien. Darin warnte er ausdrücklich: „Mögen Förster und Consorten schreiben, was sie wollen, es ist alles Humbug.“ Welche enttäuschten Erwartungen und Versprechungen hatten ihn überhaupt zu dieser energischen Anklage gegen die Kolonie veranlasst?
Die Vorgeschichte der Kolonie
Nietzsches Schwester Elisabeth lernte im Umkreis der ersten Wagner-Festspiele 1876 den Gymnasiallehrer und überzeugten Antisemiten Bernhard Förster kennen. Durch seine antisemitischen Hetzereien hatte sich Förster ab 1880 seine Lebensgrundlage in Deutschland Stück für Stück zerstört. Nun suchte er nach einer neuen Aufgabe fernab von Deutschland, die er in der Gründung einer deutschen Kolonie in Übersee fand. Zu diesem Zweck reiste er von 1883 bis 1885 durch Paraguay.
Nach seiner Rückkehr heirateten Elisabeth Nietzsche und Bernhard Förster am 22. Mai 1885, dem Geburtstag Richard Wagners. Die Heimkehr war aber nur von kurzer Dauer. Förster plante sein Kolonialprojekt umzusetzen. 1886 reisten er und seine Frau mit vierzehn deutschen Familien nach Paraguay und gründeten dort die Kolonie Nueva Germania.
Das Paradies in Übersee
Förster sah seine Kolonie vor allem als ein pädagogisches Projekt und eine nationale Kulturaufgabe. Er hoffte auf ‚Gesundung‘ durch das Leben im Einklang mit der Natur und fernab von den „Schäden der europäischen Civilisation“ für die er vor allem ‚das Judentum‘ verantwortlich sah. Um möglichst viele potenzielle Kolonisten und Geldgeber für ihr Vorhaben anzuwerben, hatten die Försters zahlreiche Versprechungen gegeben. Der Boden sei außergewöhnlich fruchtbar, das Klima besonders gesund, Nutzpflanzen wären leicht anzubauen und zu verkaufen, außerdem wurde jedem Käufer ein Landbesitz zugesichert. Wenn einige Siedlerfamilien die Kolonie doch wieder verlassen wollten, so würde ihnen der Kaufpreis in voller Höhe zurückerstattet werden – so die Ankündigung.
Angelockt von diesen Versprechungen suchte der in Antwerpen lebende Schneider Julius Klingbeil den brieflichen Kontakt zu Bernhard Förster und fasste schon bald darauf den Entschluss nach Nueva Germania auszuwandern. Im Jahr 1888 trafen er und eine Gruppe weiterer Auswanderer, darunter sein Bruder, sein Geschäftspartner Albert Bartelt, das Ehepaar Ueding und noch einige weitere Männer, per Schiff in Paraguays Hauptstadt Asunción ein.
Nach einem sehr beschwerlichen Weg, aber noch voller Tatendrang, endlich in der Kolonie angekommen, sahen sie vor Ort schnell ein, dass Försters Versprechungen mehr Schein als Sein waren. Mit Optimismus versuchten Klingbeil und seine Begleiter in den folgenden drei Monaten trotzdem ein neues Leben auf dem versprochenen fruchtbaren Boden in Nueva Germania zu beginnen. Angekommen auf dem erworbenen Stück Land erkannten er und seine Begleiter aber bald die „Märchen“ des Ehepaars. Das Klima und die Insekten machten die europäischen Begleiter krank, das Wetter war unvorhersehbar und der Transport von Waren und Baumaterial auch mit Hilfe von einheimischen Arbeitern unwegsam und schwer.
Koloniale Lügen
Klingbeil durchschaute eine weitere von Försters Lügen bereits kurz nach der Ankunft. In seiner Broschüre hatte Förster eine Karte abgebildet, auf der die Ländereien der Kolonie mit einer Größe von 31 Quadratleguas ausgezeichnet waren, in Wirklichkeit betrug die Fläche gerade einmal elf Quadratleguas.
Angesprochen auf diese Tatsache soll sich Elisabeth Förster stellvertretend für ihren Mann in Ausreden geflüchtet haben: „Die übrigen 19 Quadratleguas gehören dem Herrn Solalinde, welcher allerdings als Wucherer verschrien ist; mein Mann kann es jedoch sehr gut mit ihm, und so bald wir das Land nöthig haben, kaufen wir ihm die 19 Leguas einfach ab, das ist sehr einfach.“
Ob es wirklich so einfach gewesen wäre, ist zweifelhaft. Denn auch die elf Quadratleguas Land befanden sich nicht gesichert im rechtmäßigen Besitz Försters. Dieser hatte mit der Regierung Paraguays einen Vertrag geschlossen. Darin wurde festgelegt, dass nur unter der Bedingung, innerhalb einer zweijährigen Frist 140 Familien auf dem Gebiet fest anzusiedeln, die Besitztitel rechtmäßig an ihn übergehen sollten. Die Kolonialisten hatte Förster über diese Bedingungen aber nicht informiert. Er verkaufte ihnen das Land und ließ sie in dem Glauben, dieses rechtmäßig erworben zu haben.
Laut Klingbeil versuchte Förster nun, um die Bedingungen der Regierung zu erfüllen, möglichst viele deutsche Siedlerfamilien nach Nueva Germania zu locken und ihnen dabei auch noch möglichst viel Geld aus der Tasche zu ziehen, um seine wachsenden Schulden zu begleichen. Die Kolonie war bereits ohne ausreichendes Startkapital gegründet worden und Förster nahm Darlehen zu immer höheren Zinssätzen auf. Wieder abreisende Siedler forderten – wie von Förster versprochen – die Zurückzahlung ihres Geldes, doch Förster kam diesen Forderungen nicht nach. Auch Klingbeil hatte für den Landankauf im Voraus bereits 5.000 Mark gezahlt. Schlussendlich soll auch er sein Geld nie zurückbekommen haben. Er notierte hierzu: „mir war es damals zur Gewißheit geworden, daß wir von der Schwindlergesellschaft niemals auch nur einen Pfennig erhalten würden.“
Trotz der Geldsorgen führte das Ehepaar Förster einen opulenten Lebensstil. Sie lebten einigermaßen komfortabel im sogenannten Försterhof, während die anderen Kolonisten in ärmlichen Hütten hausten und sich mit dem Nötigsten begnügen mussten.

Landkarte mit falschen Angaben zur Größe des Kolonialgebietes (GSA 72/1508). © Klassik Stiftung Weimar

Försterhof, circa 1888 (GSA 101/568). © Klassik Stiftung Weimar

Behausungen der Kolonisten, circa 1888 (GSA 101/568). © Klassik Stiftung Weimar
Auseinandersetzung mit der ‚Kolonialherrin‘ und Abreise
Als Klingbeil für sich keine Zukunft mehr in der Kolonie sah und seinen Willen abzureisen kundtat, fühlte er sich von der Kolonieleitung geschmäht. Nach seiner Darstellung zeigte sich Elisabeth Förster zutiefst beleidigt und soll intrigiert haben. Klingbeil berichtete, dass sie ihm unterstellte, einen anderen Kolonisten als Spitzbuben bezeichnet zu haben. Weiterhin schildert er, wie ihm und seine Begleiter fortan keine Waren mehr verkauft wurden. Klingbeil war entrüstet über Elisabeth Försters Verhalten und schrieb: „Der mir gestellten Aufgabe [gemeint ist die Berichterstattung über die Kolonie, Anm. der Verf.] kann ich nicht gerecht werden, ohne der Frau zu gedenken, welche in der Verwaltung der Kolonie ‚Nueva Germania‘ eine wichtige, vielleicht die wichtigste Rolle spielt. Sie selber sagt, daß sie und ihr Mann in dem kleineren Fürstenthume, wie sie die Colonie nennt, die Regenten sein. […] Der Dame gelingt es häufig, durch ihr Geschwätz unbewußt und ungewollt, eine komische Wirkung hervorzubringen; hingen nicht so viele Thränen und so viel Elend an der ganzen Comödie, man würde häufig versucht sein, herzlich zu lachen.“
Trotz den Schwierigkeiten, mit denen er ab dem Moment der Abreiseentscheidung konfrontiert war, schildert Klingbeil, wie erleichtert er nach seiner geglückten Abfahrt war, diesen Ort endlich hinter sich lassen zu können. Es sei „ein Gefühl gewesen […], wie es einem Menschen zu Muthe sein müsse, dem nach langer Haft die Freiheit zurückgegeben worden ist.“
Er sah es nun als seine Aufgabe und Pflicht an, die Welt über die Verhältnisse in der Kolonie in Kenntnis zu setzen. Als sein Buch im Jahr 1889 erschien, offenbarten sich die Schilderungen des Ehepaar Försters auch der breiteren Öffentlichkeit endgültig als Lügen. Die Publikation verstärkte das Misstrauen gegenüber Försters Versprechungen und schreckte weitere Geldgeber von der Kolonie ab.
Ist die Liebe stärker als der Hass?
Trotzdem versuchte das Ehepaar Förster, den schönen Schein für die Förderer und Angehörigen in der Heimat zu wahren. Noch im Mai 1889 antwortete Bernhard Förster auf Klingbeils Buch und versuchte, die Vorwürfe und ‚Verleumdungen‘ zu entkräften. Diese Erwiderungsschrift wurde erst im Juli 1889 in den Hamburger Nachrichten veröffentlicht. Bernhard Förster starb schon einen Monat vorher am 3. Juni 1889, im rund zwei Tagesreisen von Nueva Germania entfernt gelegenen San Bernardino, höchstwahrscheinlich durch eine selbst verursachte Vergiftung. Nietzsches Schwester wollte die Möglichkeit eines Suizids nicht anerkennen. In verschiedenen Zeitungen verbreitete sie eine Erklärung in der sie klarstellen wollte, ihr Ehemann sei aufgrund seiner großen Anstrengungen für die Kolonie an einem Nervenschlag gestorben.
Doch selbst nach Försters Tod ließ Elisabeth Förster nicht von dem Streit mit dem ehemaligen Kolonisten Julius Klingbeil ab. Sie wollte das letzte Wort behalten. In ihrem Buch Dr. Bernhard Förster`s Kolonie Neu Germania in Paraguay konterte Elisabeth Förster: „Gegen das Klingbeil´sche Buch: ‚Enthüllungen etc.‘ kann ich persönlich nichts erwidern, da ich es nicht gelesen habe und mich mit so einer widerlichen Persönlichkeit und ihren lügnerischen Phantasien möglichst wenig befassen möchte.“
Obwohl sie sich nach eigener Aussage möglichst wenig mit Klingbeil befassen wollte, widmet sie ihm und anderen kritischen Stimmen doch ein ganzes Kapitel im Anhang ihres Buches. Unter dem Titel „Unerfreuliches Polemisches“ schrieb sie über Klingbeil: „Es soll ja auf Jeden, der Klingbeil persönlich in der Kolonie gekannt hat, unwiderstehlich komisch wirken, wie sich K., das Sinnbild eines kleinlichen, schmutzigen Egoisten, in seinem Machwerk als edler Menschenfreund drapirt.“
Sie stellte ihn als zutiefst boshaften und hinterlistigen Menschen dar, charakterisierte ihn als geistesgestört und versuchte Klingbeils ‚Agenda‘ dahingehend zu begründen, dass dieser von jesuitischen Missionaren ausgesendet worden sei, um die Kolonie zu ruinieren. Warum gerade diese so einen, in ihren Worten, „kläglichen, lasterhaften, grenzenlos unwissenden Burschen“ geschickt haben sollten, konnte sie jedoch nicht erklären. Den Unmut Elisabeth Försters über Klingbeils Abreise aus der Kolonie wird anhand des folgenden Zitats nochmal deutlich: „Als Klingbeil aus der Kolonie Neu-Germania, wo er von allen Seiten nichts als Verachtung geerntet hatte, heimlich entwich, um einer Tracht Prügel zu entgehen, die ihm einige handfeste Kolonisten zugedacht hatten, da soll er der Kolonie furchtbare Rache geschworen haben.“
Elisabeth Förster beendete ihre Ausführungen mit den Worten: „Aber was hilft es? Die Liebe ist stärker als der Haß!“ Ob sie sich bei allen Streitigkeiten wirklich an dieser Maxime orientiert hatte, bleibt fraglich.
Zum Nachlesen:
Bernhard Förster: Deutsche Colonien in dem oberen Laplata-Gebiete mit besonderer Berücksichtigung von Paraguay. Ergebnisse eingehender Prüfungen, praktischer Arbeiten und Reisen 1883-1885. Naumburg an der Saale: Selbstverlag des Verfassers, 1886.
Elisabeth Förster: Dr. Bernhard Förster`s Kolonie Neu Germania in Paraguay. Berlin: Commissions-Verlage der Actien-Gesellschaft Pionier, 1891.
Julius Klingbeil: Enthüllungen über die Dr. Bernhard Förster'sche Ansiedelung Neu-Germanien in Paraguay. Leipzig: Baldamus, 1889.
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