
Das Vermächtnis einer großen Denkerin
Intervention im Rokokosaal
Rahel Varnhagen war die erste deutsche Schriftstellerin, die mit ihrem Bildnis im Rokokosaal zu sehen war. Nun kehrt das Porträt im Rahmen einer Intervention zurück. Wer war die einflussreiche Schriftstellerin?
„Ein Meisterstück von Tieck“ – Rahels Bild kommt 1835 nach Weimar

Friedrich Tieck: Rahel Varnhagen
So schrieb Karl August Varnhagen von Ense (1785-1858) am 29. März 1835 aus Berlin an den Staatskanzler Friedrich von Müller (1779-1849) nach Weimar. Der Empfänger war nach Goethes Tod im Jahr 1832 zur zentralen kulturpolitischen Figur des Herzogtums von Sachsen-Weimar-Eisenach geworden; der Absender, ein Historiker und Diplomat, war seit zwei Jahren der Witwer der außergewöhnlichsten Autorin der damaligen Zeit: Rahel Varnhagen von Ense (1771-1833).
Am Ostermorgen, dem 20. April 1835, antwortete ihm der Kanzler aus der Ilm-Stadt:
So wurde das Tondo mit Rahels Porträt, ein Höhepunkt von Tiecks klassizistischer Phase, in die Großherzogliche Bibliothek gebracht. Rahel Varnhagen von Ense war damit die erste deutsche Schriftstellerin, die im Rokokosaal zu sehen war: in „würdigster Gesellschaft“ und zur „Freude der Besucher“, wie Kanzler von Müller betonte, aber besonders, möchte man hier einfügen, der Besucherinnen, denn gerade für eine neue Generation von Frauen hatten Rahels intellektuelle Präsenz und die Positionierung ihres Porträts im inszenierten Pantheon des Rokokosaales eine herausragende Bedeutung.

Rahels Billet an Johann Wolfgang von Goethe (5. September 1815), den sie mit Friederike Antoine Varnhagen von Ense, geborene Robert, unterschrieb, © Klassik Stiftung Weimar
Rahel, Goethe und Weimar
Als intellektuelle Frau jüdischer Herkunft hatte Rahel eine doppelte Bürde zu tragen. Die Polarität zwischen Anpassungsstrategien und eigenwilligen Entscheidungen spiegelt sich auch in ihrer Namenswahl und ihrer unkonventionellen Biographie wider. Als älteste Tochter eines jüdischen Juwelenhändlers und Bankiers kam sie als Rahel Levin in Berlin zur Welt. Nach dem Tod des Vaters wählte die Familie den Nachnamen Robert und als Rahel Robert lebte und reiste sie selbständig durch Europa, unabhängig von finanziellen Sorgen. Als sie 1814 zum Protestantismus konvertierte und heiratete, unterschrieb sie ihre Korrespondenz mit dem Vorname Friederike Antonie und dem Nachnamen ihres Mannes Varnhagen von Ense.
Als Autorin, Kritikerin, Kulturvermittlerin und Kulturagentin war sie aber stets als „Rahel“ bekannt.
Rahel Varnhagen durfte als Mädchen, dazu jüdischer Herkunft, keine höhere Schule besuchen. Ihre außerordentliche Bildung eignete sie sich autodidaktisch durch die Lektüren von alten und zeitgenössischen Texten der europäischen Literatur und von philosophischen Schriften der Aufklärung an, darunter Schiller, Humboldt und Fichte. Sie lehnte eine von der Familie arrangierte Hochzeit ab, verreiste und führte ein eigenständiges Leben in Berlin. Schon vor ihrer Ehe hielt sie einen berühmten Salon ab, der zum Treffpunkt zentraler Figuren der Romantik wurde. Nach einigen gescheiterten Liebesbeziehungen heiratete sie schließlich den um 14 Jahre jüngeren Diplomaten Karl August Varnhagen von Ense und mit ihm ließ sie sich nach einigen Reisen durch Europa ab Oktober 1819 in Berlin nieder. In ihrer Gesellschaft versammelten sich Politiker, Intellektuelle und Schriftsteller*innen: Bettina von Armin, Heinrich Heine, Ludwig Börne, Friedrich de la Motte-Fouqué, Fürst Pückler-Muskau, die Mendelsohns, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, nur um einige Namen zu nennen. Gemeinsam diskutierten sie über Gesellschaft und Ethik, Religion und Philosophie.
Trotz ihrer Berühmtheit in aufgeklärten Kreisen durfte Rahel Varnhagen nicht öffentlich am intellektuellen Diskurs teilhaben. Ihre Schriften, in denen sie emanzipatorische Positionen vertrat, erschienen zuerst anonym oder chiffriert. Ihre philosophischen Positionen und Reflexionen erstrecken sich auf eine weite Korrespondenz mit Vertrauten. So hinterließ sie als erste deutsche Frau ein reiches theoretisches Werk, aber nicht systematisch, sondern in Briefen, Notizen und Tagebüchern, die heute erstmalig eine komplette kritische Ausgabe erfahren.
Rahel Varnhagens Sprache und Stil sind äußerst originell: sie kultivierte die Kunst des scharfen, zugespitzten Formulierens, die Prägnanz der Aphorismen und die Liebe für Worterfindungen sowie für bildreiche Metaphern. Ihr unvergleichlicher Wortschatz ist voller Überraschungen: plastisch und hinreißend, erfrischend und tiefsinnig, theoretisch und poetisch zugleich. „Mein Schreiben gliche öfters frischen aromatischen Erdbeeren, an denen aber noch Sand und Wurzlen hingen: sagten Sie einmal; dem bin ich eingeständig. Und nichtsdestoweniger halte ich mich für einen der ersten Kritiker Deutschlands […]. Nämlich, ich mag nie eine Rede schreiben, sondern will Gespräche schreiben, wie sie lebendig im Menschen vorgehn, und erst durch Willen, und Kunst wenn Sie wollen – wie ein Herbarium […]. Aber auch meine Gespräche sind nicht ohne Kunst; d. h. ohne Beurtheilung meiner selbst, ohne Anordnung“, schrieb sie dem befreundeten Politiker und Schriftsteller Friedrich von Gentz im Oktober 1830.
Johann Wolfgang von Goethe war zweifellos der Autor, den Rahel am meisten bewunderte und verehrte. Seine Worte und Werke wirkten für sie als strahlende Wegweiser ihrer autonomen und individuellen Reflexion: „Durch all mein Leben begleitete der Dichter mich unfehlbar […]. [E]r war ewig mein einzigster, gewissester Freund; mein Bürge, […] mein superiorer Meister“, gestand sie 1808 dem damals nur befreundeten Karl August Varnhagen.
Obwohl Goethe Rahels „schöne Seele“ bewunderte, war es seine Schwiegertochter, die kultivierte und freiheitsliebende Ottilie von Goethe (1796-1872), die Rahel als Wendepunkt einer neuen kulturellen Situation in Deutschland, besonders für Frauen, würdigte und hervorhob. Die befreundete Schriftstellerin Anna Jameson beschrieb Rahel in zwei kritischen Texten als Pionierin, die „uns die Welt der Reflexion eroberte und uns die Davys Lampe für den tiefsten Gedanken- und Gemüthschatz angezündet hat. […] Es ist seit Rahel uns erlaubt, Gedanken zu haben, die sich mit den Gegenständen des allgemeinen Menschenwohls beschäftigen […]. Kein Mann bestreitet uns mehr das Recht uns zu der Classe der denkenden Wesen zu rechnen, selbst die nicht, die Rahel wie eine Sphynx unverstanden anstarren […], selbst die wagen es nicht […].“
Bereits im Jahr 1834 verkündete Karl August Varnhagen mit Stolz und Bewunderung gegenüber seiner Schwester Rosa Maria Assing: In Weimar und Jena gab es „eine ganze Gemeinde edler Frauen und Mädchen, die sich zu Rahel bekennen“. Die Berlinerin hatte für eine neue Generation Frauen, die nach geistiger Freiheit strebten, den Weg intellektueller Gleichheit geebnet.

„Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde“: Karl August Varnhagen von Ense veröffentlichte posthum im Jahr 1833 eine Auswahl von Rahel Varnhagens Briefen und Aufzeichnungen, © Klassik Stiftung Weimar
Ein Andenken für die Schriftstellerin
Karl August Varnhagen von Ense publizierte zwei Monate nach dem Tod seiner geliebten Frau eine erste Auswahl ihrer Aufzeichnungen und Briefe. Rahel hatte in ihrem Leben an etwa 300 Korrespondent*innen fast 6.000 Briefe geschrieben. Gemeinsam mit ihrem Mann hatte sie am Ende ihres Lebens einige Stücke für eine posthume Publikation ausgesucht. Das umfangreiche Buch, bestehend aus mehr als 500 Seiten, trug den Titel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde.
Es handelte sich um einen eleganten Druck, der nicht zum Verkauf gedacht war: ein Andenken an die Verstorbene eben, das der Witwer Freund*innen und Verehrer*innen schenkte, wie durch die Bezeichnung „als Handschrift“ auf der Titelseite deutlich wird. Die Lithographie von Gottfried Küstner aus dem Jahr 1818, die Rahels Porträt von Moritz Daffinger darstellt, trug zu einem Denkmal für die Verstorbene bei. Die Resonanz und der Erfolg der Publikation war so überwältigend, dass Varnhagen kurz darauf eine erweiterte Fassung realisierte. Aus seinem in den Jahrzehnten zuvor gewachsenen Privatarchiv (heute in der Bibliothek der Jagiellonen Universität Krakau aufbewahrt) ergänzte er sorgfältig weitere Korrespondenzen Rahels in Abschriften sowie die Antworten der Empfänger*innen, die er als Dialog inszenierte. Diese zweite Publikation in drei Teilen, die nun zum Kauf angeboten wurde, erschien 1834 beim Verlag Duncker und Humblot in Berlin und war sogar als Luxus-Exemplar in Velinpapier und mit Goldschnitt erhältlich.

Die Luxusausgabe in Velinpapier mit Goldschnitt erschien 1834 beim Verlag Duncker und Humblot in Berlin, © Klassik Stiftung Weimar
Auch die zweite Edition erwies sich als Erfolg, jedoch konnte Karl August Varnhagen von Ense eine geplante dritte Überarbeitung des Buches nicht mehr umsetzen. Nach seinem Tod im Jahr 1858 ging sein umfangreiches Privatarchiv an seine Nichte Rosa Ludmilla Assing (1821-1880) über. Die politisch engagierte Schriftstellerin und Künstlerin führte Rahels Salon weiter und gab einen Teil des Nachlasses ihres Onkels in mehreren Bänden heraus.
Im Jahr 1859 schickte Ludmilla Assing das letzte Porträt des Onkels als Geschenk an die Großherzogliche Bibliothek in Weimar. Es handelte sich um eine im Jahr 1857 realisierte Gipsbüste der befreundeten Bildhauerin Elisabeth Ney (1833-1907). Während der monumentale Kopf Varnhagens von Ense schon kurz nach seiner Ankunft einen prominenten Platz auf der Balustrade des Rokokosaals erhielt, wissen wir bis heute nicht, an welchem Ort Rahels Porträt innerhalb der Bibliothek aufgestellt wurde. Seit 1974 wird es im Depot der Klassik Stiftung Weimar aufbewahrt – wodurch das Gedenkwerk den Blicken und der Wahrnehmung der Besucher*innen lange verwehrt blieb.
Vom 7. März 2024, dem Todestag Rahels, bis zum 12. Mai 2024 war ihr Tondo wieder im Rokokosaal zu sehen. Es wurde direkt gegenüber der Büste ihres Mannes platziert, der durch die sorgfältige Edition ihrer zuvor in Korrespondenzen und Notizbücher verstreuten Gedanken ein literarisches Denkmal für sie geschaffen hat.
Rahels außerordentliche Persönlichkeit und ihr literarisches Werk verdienen unsere Anerkennung und Wiederentdeckung. Ihr unermüdliches Streben nach Bildung, Vernunft, Dialog, Selbstreflexion und Wahrheitsliebe ist heute wichtiger denn je.
Aktuelle Stories

Benedikt Kautsky und die Bücher aus einstigen Gewerkschaftsbüchereien und SPD-Bibliotheken

Restitution von NS-Raubgut

Restitution von NS-Raubgut

Citizen Science in der Romantik