
Krieg und Sprache
#5 | Schlechte Raketen
„Bis wohin reichen feindliche Raketen? Bis in die Träume“ – der fünfte Beitrag von Kateryna Mishchenko zum Krieg in der Ukraine.
Bis wohin reichen feindliche Raketen? Bis in die Träume, die sich manchmal mit den Nachrichten über neue Angriffe auf die Städte vermischen. Umso mehr überraschen mich Leute, deren Imagination nicht davon betroffen ist. So ein Mensch ist anscheinend mein Sohn. Er guckt in den Himmel und sagt zur mir, dass er sich gerne auf die Wolke setzen möchte. Wie sollten wir denn zur Wolke kommen? Mit einer Rakete, erwidert er. Ein ukrainisches Kind ohne direkte Kriegserfahrung, dachte ich beim ersten solchen Gespräch, in seiner Vorstellung sind Raketen immer noch ein Entdeckungsinstrument.
Vor einigen Wochen waren wir im Berliner Technikmuseum und schauten uns die deutsche Rakete Aggregat 4 (A4) an. Von den Nazis wurde sie auch „Vergeltungswaffe” genannt und bei Bombardierungen Britanniens und Belgiens eingesetzt. Es war übrigens eine „utopische” Rakete, die als erste die international festgelegte Grenze des Weltraums überwunden hatte. Nach 1945 war sie Basis für US-amerikanische und sowjetische Kosmosprojekte. Mein Kind sah das Utopische, und ich das Bedrohliche. Ich sagte, das sei eine schlechte Rakete, die keine Faszination verdiene.
Eine russische Familie wollte sich auch A4 ansehen. Und ich stellte fest, dass ich die Raketensätze zu meinem Sohn auf Deutsch sprach. Unter anderem, um von ihnen nicht definiert zu werden. Beim weiteren Spaziergang durchs Museum hörte ich immer wieder das russländische Russisch, sah, wie Väter ihren Kindern die Militärtechnik erklären und fragte mich, ob sie auch die ganze Zeit an den Krieg denken, ob diese Technik ihnen auch unheimlich erscheint. Ich schreibe meiner Freundin, die in Kyjiw seit anderthalb Jahren unter Alarm und russischen Beschüssen lebt: Ich bin im deutschen Technikmuseum, sehe Militärtechnik und Russen. Atmosphärisch. Besteht die Möglichkeit, ihnen auf die Nase zu hauen? antwortet sie ironisch. Ein kurzer ukrainischer Dialog zwischen einer Gebliebenen und einer Geflüchteten. Ein Dialog zwischen Orten, wo Raketen exponiert werden und wo sie töten.
Manchmal werde ich hier in Deutschland gefragt, ob ein Dialog mit russischen Kolleg*innen nicht wichtig wäre. Diese Frage impliziert meiner Ansicht nach die ohnmächtige Sehnsucht nach Versöhnung und übersieht einen viel zu realen Dialog, der stattfindet.

Quelle: YouTube, © BorderGuardService. Die Echtheit des Videos konnte nicht von unabhängiger Stelle überprüft werden.
„Zum letzten Schnee“ steht auf dieser Granate, die der ukrainische Soldat bald dem Feind sendet. Die Texte auf Drohnen oder Munition können divers sein, mal poetische Zeilen, mal Namen von Menschen, mal Vergeltungsworte. Waffen sind ihre Medien. Der Krieg bringt nicht nur Nachrichten über Tote, sondern auch tödliche Nachrichten.
Die Menschen in frontnahen Orten haben sich die Sprache der Waffen gut aneignen können. Ihre Körper reagieren schnell aufs Pfeifen, Brüllen oder Sprengen. Die Soldaten wissen bombensicher: ist es still, dann bereitet der Feind einen Schlag vor.
Am besten sind in diesen Dialogen die Drohnenjäger und Soldaten der Luftabwehr, die russische Ansprachen direkt in der Luft abfangen. Wolodymyr Krywenko, Sergeant der 93. Brigade der ukrainischen Armee, weist im April-Gespräch mit dem Portal lb.ua auf die heilende Bedeutung des Schweigens hin: „Und natürlich wäre es schön, wenn da drüben irgendeine F-16 über uns hinwegfliegen und so etwas in Richtung des Feindes werfen würde, dass sie eine Woche lang schweigen.”
Als wäre eine Rakete eine riesige faule Zunge, auf die man sich beißen soll.
Weitere Beiträge

Krieg und Sprache

Krieg und Sprache

Krieg und Sprache

Krieg und Sprache