Elsa von Klarwill mit ihrem Sohn Victor, vor 1910, © privat

Restitution von NS-Raubgut

"See what you started!"

11.11.2024 6

Im September 2024 hat die Klassik Stiftung Weimar ein vierbändiges Werk an die Enkelin einer NS-Verfolgten restituiert: Der Fall Elsa von Klarwill oder Wie die Provenienzforschung ein neues Kapitel in der Familiengeschichte aufschlug.

Provenienzforschung besteht in erster Linie aus einer mühseligen Suche nach kleinen Puzzleteilchen von Hinweisen; im besten Fall ergeben sie ein lückenhaftes Gesamtbild. Ausgangspunkt ist zumeist ein auffälliger Eintrag im Zugangsverzeichnis einer Sammlung, mit vielfältigen Informationen zum betreffenden Werk selbst. Die zentrale Frage lautet jedoch stets: Wem gehörte dieses Objekt einst, und unter welchen Umständen ist es in die Sammlung gelangt? Die Suche nach Objekten und die Rekonstruktion von oftmals eng damit verbundenen menschlichen Schicksalen spielt sich zu 90 Prozent vor dem Computerbildschirm ab – wenn etwa Unrechtstatbestände festgestellt, Restitutionsentscheidungen getroffen sowie mögliche Erben ermittelt und kontaktiert werden. Doch immer wieder wird deutlich, dass diese Arbeit weit  über die bloße Rückgabe von Gegenständen hinausgeht, Dinge in Bewegung bringen kann und sogar freundschaftliche Verbindungen zu schaffen vermag. Ein Beispiel dafür ist der Fall Elsa von Klarwill. 

Der Fall Elsa von Klarwill

Bei den Recherchen zu NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut in den Beständen der Herzogin Anna Amalia Bibliothek war ein vierbändiges Werk aufgefallen, das im September 1939 von dem Königsberger Antiquariat Gräfe und Unzer erworben worden war und daher näher auf mögliche Vorbesitzspuren untersucht werden musste. Es handelt sich um die Erinnerungen des französischen Schauspielers François-Joseph Talma, herausgegeben 1849/50 von dem berühmten Schriftsteller Alexandre Dumas. Eine Autopsie der Bücher brachte einen markanten Stempelaufdruck „Bibliothek Victor v. Klarwill“ zum Vorschein, der sich in jedem der vier Bände findet.

Sehr schnell wurde klar, dass es sich bei dem früheren Eigentümer um den Wiener Bibliophilen Victor von Klarwill (1873–1933) handeln musste. Der Sohn eines 1881 geadelten jüdischen Schriftstellers und Journalisten war als Übersetzer und Herausgeber französischsprachiger Schriften hervorgetreten. Er gehörte zu einem lose organisierten Kreis Wiener Büchersammler, der ein Vorläufer der Wiener Bibliophilen-Gesellschaft war. Victor von Klarwill war verheiratet mit Elsa Elvira von Klarwill, geb. Egger (1877–1945), die ebenfalls jüdischer Herkunft war. Das Ehepaar hatte einen Sohn, Victor Isidor Ernst (1902–1984). Nach dem Tod ihres Ehemanns im März 1933 wurde Elsa von Klarwill Alleinerbin aller seiner beweglichen Besitztümer, zu denen auch seine Bibliothek zählte.

Einer von vier Bänden aus der Bibliothek Victor von Klarwill mit Besitzstempel, © Klassik Stiftung Weimar

Nach dem ‚Anschluss‘ Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 wurde Elsa von Klarwill aufgrund ihrer jüdischen Herkunft vom NS-Regime verfolgt. Sie wurde unter anderem gezwungen, eine Aufstellung ihrer gesamten Vermögenswerte anzufertigen. In dem auf den 15. Juli 1938 datierten Dokument vermerkte sie als ihren Besitz neben Hausrat und Schmuck auch eine „Hausbibliothek (teils französ.)“. 

Bereits Mitte Juli 1938 hatte ihr Sohn Victor das Land verlassen, emigrierte zunächst nach Italien und kurz darauf nach Nairobi, Kenia. Elsa von Klarwill plante, ihm nach Afrika zu folgen. Im April 1939 gab sie in ihrem „Vermögensbekenntnis“ eine Aufstellung der ihr verbliebenen Vermögenswerte ab.

Infolge der „Dritten Anordnung auf Grund der Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden“ vom 21. Februar 1939 musste Elsa von Klarwill ihren Schmuck und sonstige Wertgegenstände aus Edelmetall veräußern, wie eine entsprechende Liste der Öffentlichen Ankaufsstelle des Wiener Auktionshauses Dorotheum vom 14. April 1939 belegt. Die Wiener Behörden vermerkten am 31. Oktober 1939 die Abmeldung Elsa von Klarwills, die direkt zu ihrem Sohn Victor nach Kenia auswanderte.

Es ist nicht mehr zu rekonstruieren, wann und unter welchen Umständen die in Weimar aufgefundenen vier Bände aus dem vormaligen Eigentum Elsa von Klarwills in den Antiquariatshandel gelangten. Der Firmensitz des Königsberger Antiquariats Gräfe und Unzer, das die Bücher erworben und dann nach Weimar geliefert hatte, wurde bei den alliierten Luftangriffen auf die Stadt im August 1944 zerstört und brannte mit allen Geschäftsunterlagen bis auf die Grundmauern nieder. Nach gegenwärtigem Kenntnisstand gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass Elsa von Klarwill vor 1938 Verkäufe aus der Privatbibliothek getätigt hat. Angesichts des engen zeitlichen Zusammenhangs zwischen der Vermögensaufstellung im Juli 1938, dem Zugangsvermerk der Thüringischen Landesbibliothek für die vier Bände im September 1939 und schließlich der Emigration im Oktober 1939 hat sich die Klassik Stiftung Weimar entschieden, die vier Bücher als verfolgungsbedingten Verlust anzuerkennen und sie an die Erben nach Elsa von Klarwill zu restituieren. Die Stiftung orientiert sich dabei an den Washington Principles von 1998, die vor allem eine Suche nach den Erben der vormaligen Eigentümer sowie ein gemeinsames Finden gerechter und fairer Lösungen nahelegen. 

Die Erbin der Familie von Klarwill bei der Restitution der Bücher im Rokokosaal der Herzogin Anna Amalia Bibliothek im September 2024, © Klassik Stiftung Weimar

Die Suche nach den Erben

Häufig beginnt mit der Suche nach erbberechtigten Personen ein neues Recherchekapitel. Denn die mittlerweile verstrichenen Jahrzehnte, oftmals komplex verästelte Familiennetzwerke mit einer Vielzahl an Nachkommen und über alle Kontinente verstreuten Angehörigen können die Suche nach den richtigen Ansprechpersonen erheblich erschweren. Im Fall der Familie von Klarwill gelang es jedoch schnell, eine Erbin zu finden. Genealogische Datenbanken und die dort in Stammbäumen vermerkten Informationen halfen bei der Suche. Elsa von Klarwill lebte nach ihrer Emigration aus Wien bei ihrem Sohn Victor und dessen Ehefrau in Nairobi. Am 8. April 1945, demselben Tag, an dem ihre Enkelin Victoria Elsa geboren wurde, starb Elsa von Klarwill. Die Familie betrieb nach dem Zweiten Weltkrieg eine Lodge am Fuß des Mount Kenya und organisierte Safaris für Touristen, musste jedoch infolge des Unabhängigkeitskriegs gegen die britische Kolonialmacht das Land in den 1950er Jahren verlassen. Sie übersiedelte zunächst nach Südafrika, wenig später nach England. Als Victor von Klarwill 1985 dort starb, wurde seine einzige Tochter Alleinerbin des Familienzweigs. Sie war Ende der 1960er Jahre nach Kanada übersiedelt, da England ihr nach ihrer frühen Kindheit in Afrika zu klein und zu eng erschien. Heute lebt sie mit ihrer Familie in der Nähe von Vancouver.

Unmittelbar nach der Kontaktaufnahme mit einer Verwandten meldete sich die Familie in Weimar, und es entwickelte sich bald darauf eine intensive und herzliche Korrespondenz, die nicht nur weitere Informationen über das Verfolgungsschicksal der von Klarwills zutage förderte, sondern die Familie ihrerseits in Bewegung brachte.  Die Familie spricht von einer „Kettenreaktion“: Ausgehend von den Recherchen der Klassik Stiftung Weimar begann sie nun, selbst Nachforschungen zu den Buchbeständen der von Klarwills anzustellen und richtete entsprechende Anfragen an andere Einrichtungen. Tatsächlich wurde sie dabei fündig: Im Bestand der Bibliothek der Freien Universität Berlin wurde ein Band gefunden, der ebenfalls im September 2024 restituiert werden konnte. Auch in der Wienbibliothek im Rathaus, die bis 2006 den Namen Wiener Stadt- und Landesbibliothek trug, fand sich ein weiteres Buch.

In SeptembIm September 2024 reiste Elsa von Klarwills Enkelin, mittlerweile 79-jährig, gemeinsam mit ihren beiden Töchtern nach Weimar. Die Familie entschied, dass die vier Bände in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek verbleiben sollten und nahm das Ankaufsangebot der Klassik Stiftung Weimar an. Die Gespräche während des Aufeinandertreffens in Weimar machten deutlich, was die Recherchen an der Klassik Stiftung Weimar ins Rollen gebracht hatten – so beabsichtigen zwei Nachkommen Elsa von Klarwills nunmehr, unabhängig voneinander intensiver zum Verfolgungsschicksal ihrer Familie zu recherchieren und ihre Ergebnisse in Publikationen zu veröffentlichen.

Die Provenienzrecherchen und die Restitution der Klassik Stiftung Weimar waren in diesem Fall also nicht nur der Ausgangspunkt für eine tiefergehende Beschäftigung der Familie mit ihrer eigenen Vergangenheit und Identität, sondern auch ein Anlass, die Beziehungen innerhalb ihrer Verwandtschaft, insbesondere zu deren österreichischem Teil, zu vertiefen und zu festigen. So brachte eine einzelne Restitution letztlich wesentlich mehr ins Rollen als nur die bloße Wiederherstellung der ursprünglichen Eigentumsverhältnisse. Die Erbin schrieb am 3. September 2024, kurz vor dem Besuch in Weimar: „We will have many stories to tell you of the ball that your research has started to roll! […] See what you started!”

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