
Krieg und Sprache
#6 | Die Sehnsucht nach dem Unheimlichen
„Die Kriegslandschaft wird verinnerlicht und in diesem Interieur findet die Arbeit des Denkens statt, ziemlich schnell wird es eng. Denn es ist verwirrend, wenn Gedankenwege von der Abwesenheit, vom negativen Sein bestimmt werden.“ Der sechste Beitrag zum Krieg in der Ukraine von Kateryna Mishchenko.
Die Erfahrung des Exils ist für mich neu, sowohl persönlich als auch intellektuell. Sehr schwierig auf persönlicher Ebene, verspricht sie doch eine intellektuelle Herausforderung und Produktivität des Denkens. Eine Reise in diese Erfahrung fühlt sich wie eine Entdeckungsreise an und ist sicherlich etwas anderes als die Reise in ein anderes Land, es ist eine Reise in das Land des Exils. Vom Exil sprechend, kann ich mich noch nicht auf die Tradition der Exilliteratur beziehen, die schon lange existiert. Wie gesagt, ich spreche aus der Perspektive des naiven Entdeckens.
Obwohl ich sehr gut verstehe, was innere Emigration im eigenen Land bedeutet, ist mir unbekannt, wie die Spannung zwischen Ich, dem Staat, dem Land, den Mitmenschen in jeder einzelnen Exilsituation funktioniert. Diese Spannung definiert die Trennung und den Verlust. Ich versuche meinen Staat so viel wie möglich zu unterstützen - im Kampf gegen den russischen Vernichtungskrieg, und ich verzweifle manchmal über meinen Staat und über mein Land, wenn ich ihn „innenpolitisch” kritisch betrachte. Diesen zweiten, innenpolitischen Staat sehe ich als etwas, was ich immer noch habe und nicht vermisse. Mit dem Verlust des Ersten muss ich mich ständig auseinandersetzen, und die deutsche Sprache verrät den Sinn dieser Auseinandersetzung - durch die Zweideutigkeit des Wortes „verlieren” (gemeint sind Verlust und Niederlage), die es im Ukrainischen nicht gibt.
So mehrdeutig erscheint mir auch der Begriff Trennung. Genau das, wovon man sich trennt, nimmt die Imagination mit. Hier in Berlin träume ich von Toten, von Vermissten und Gefangenen, die ich oder meine Nächsten kennen. Ich träume von Beschüssen, die an Riesenhagel erinnern und damit ständig verwirren. In Kyjiw steht noch mein Stadtteil, meine Wohnung, aber das, wonach ich mich sehne, ist das Leben, das es nicht mehr gibt, und die Menschen, die nicht mehr existieren. Die Trauer kommt zu nah an die Sehnsucht nach Nichtexistenz. Ich glaube, solange die Trauer nicht durchlebt worden ist, werde ich die Sehnsucht nach dem Unheimlichen empfinden. Nach etwas, was nicht mehr „heim“ ist, wovon Heim gefangen genommen wurde.
Die Kriegslandschaft wird verinnerlicht und in diesem Interieur findet die Arbeit des Denkens statt, ziemlich schnell wird es eng. Denn es ist verwirrend, wenn Gedankenwege von der Abwesenheit, vom negativen Sein bestimmt werden. Oft habe ich den Eindruck: es gibt in mir keinen Platz mehr. Nach einem Beschuss und einer Zerstörung kommen kommunale Helfer und Freiwillige, um die Ruinen zu beseitigen und zu reparieren, um Platz für das Leben zu schaffen. Die lebensrettende Arbeit dieser Menschen erinnert mich an die Arbeit der inneren Ressource. Wenn man sich innerlich zerbrochen fühlt, versucht man, eine sichere Ecke für sich selbst zu räumen, einen friedlichen Ort. Es ist ein besonderer Luxus, Raum für Gedanken zu haben. Wie für die Ukraine der Frieden zum Luxus geworden ist.
Den zusätzlichen Raum kann eine andere Sprache bieten. Vor vielen Jahren kam Deutschland in mein Leben durch Sprache. Es ist längst kein fremdes Land für mich. Die Möglichkeit, in deutscher Sprache zu schreiben und über den Krieg zu sprechen, ist ein Vorteil, und eine Art Versteckspiel. Die sprachliche Distanz zum Horror wird durch die Distanz der deutschen Gesprächspartner zu meiner Heimrealität gesichert. Aber der Krieg hat Geduld und das Versteck in einer anderen Sprache erweist sich als illusorisch.
Und dann sehe ich einen anderen unerwarteten Vorteil: mir ist nun klar, dass es keine Zuflucht und keinen friedlichen Raum gibt (auch wenn er sicher ist). Und in der inneren Sackgasse ziehe ich eine wichtige Lehre. Das Leiden ist universal. Das Leiden ist nicht ukrainisch und lässt keine Entfremdung zu. Diejenigen, die die Trümmer beseitigen und Menschen daraus holen, retten Leben. Die innere Infrastruktur rettet die Seele und das Denken. Und ich stelle mir eine ethische Frage: was kann ich tun und was kann ich schreiben, um Leben zu retten? Wahrscheinlich nicht die vom Krieg verwundete Heimat internalisieren, sondern eine politisierte, hoffnungsvolle Heimat nach außen reproduzieren… Aber vielleicht gibt es hier keine Entgegensetzung, sondern eine Verflechtung.
Was bin ich für ein Mensch, ein Subjekt heute, während dieses Vernichtungskrieges? Es gibt mehrere von mir vorgestellte Selbstbilder: Verlegerin aus Kyjiw, engagierte Autorin, geflüchtete ukrainische Mutter. Sogenannte Masken des Exils. Was ich nicht gerne zugebe, ist das, wonach ich mich sehne, und zwar die Trauer. Ich will ein trauerndes Subjekt sein. In räumlichen Kategorien stelle ich mir einen Punkt vor, außerhalb des Nationalen. Einen Punkt der Trauer, wo wir uns zusammenfinden, wenn wir es wagen, mit uns selbst ehrlich zu sein. An diesem Punkt kann man die Entmenschlichung des Krieges überwinden und das Leben jedes einzelnen für unendlich wichtig halten. Meine begehrte Rückkehr wäre dann zu diesem Punkt, eine Rückkehr zum Menschen.
Die Betrachtung „Die Sehnsucht nach dem Unheimlichen. Trauer und Denken im Exil“ wurde vorgetragen bei der von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ausgerichteten Veranstaltung Von Verlust und Zuflucht. Exil. Ein Kulturabend am 23. August 2023 in Schloss Bellevue.
Weitere Beiträge

Krieg und Sprache

Krieg und Sprache

Krieg und Sprache

Krieg und Sprache