Erste Seite der erneuerten (dritten) Frankfurter Steinmetzen- und Maurer Ordnung von 1579. GSA 88/254 S. 5, © Klassik Stiftung Weimar

Simrock-Boisserée-Nachlass

Ein Jahrhunderte überdauerndes Gemeinschaftsprojekt zur Geschichte der Bauhütten

Seit 1900 gehört er zum Bestand des Goethe- und Schiller-Archivs: der sogenannte Simrock-Boisserée-Nachlass. Er enthält bislang wenig bekannte Unterlagen zur spätmittelalterlichen Bauhüttengeschichte. Diese Dokumente konnten nunmehr in einer Edition erschlossen werden und bieten neue Einblicke in die Geschichte des Steinmetzhandwerks.

Der Simrock-Boiserée-Nachlass ist eine äußerst vielseitige Sammlung, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zusammengetragen wurde. Sie umfasst Originalurkunden, Abschriften aus dem Spätmittelalter und dem 19. Jahrhundert sowie weitere historische Materialien. Dazu gehören Handwerksordnungen, Bestallungen, Gerichtsakten zu handwerksinternen Streitfällen sowie Notizen und Briefe anderer Gelehrter, welche die Entstehungsgeschichte der Sammlung dokumentieren.

Die Sammlung geht auf Dr. Christian Ehrmann zurück, einen Frankfurter Arzt und möglicherweise selbst Ehrenmitglied der Straßburger Steinmetzbruderschaft. Um 1812 holte er Sulpiz Boisserée dazu, einen Kunst- und Architekturhistoriker, der für sein Engagement beim Weiterbau des Kölner Doms bekannt wurde und sich für die Geschichte des Steinmetzhandwerks interessierte. Aufgrund unterschiedlicher Vorstellungen hinsichtlich des Umgangs mit der Sammlung übernahm Boisserée diese im Jahr 1819.

Trotz großer Bemühungen gelang es ihm nicht, das Projekt einer Publikation zu verwirklichen. Zwar konnte er die Sammlung über Jahrzehnte stetig erweitern, jedoch führte sein hoher Anspruch zum Scheitern des Vorhabens. In den 1850er Jahren beteiligte er daher den Germanisten Karl Simrock, der die Herausgabe übernehmen sollte. Doch auch dieser Versuch blieb ohne Erfolg, sodass das Material nach Simrocks Tod als Teil seines Nachlasses an das Goethe- und Schiller-Archiv überging.

Von Johann Christian Ehrmann unterzeichnete Quittung vom 3. Juli 1819, in der er die Überlassung der gesammelten Dokumente sowie der Publikationsrechte an Sulpiz Boisserée bestätigt. GSA 88/263 S. 23, © Klassik Stiftung Weimar

Von Karl Simrock verfasstes Konzeptpapier, in dem er die Sammlungsgeschichte schilderte und das Manuskript der Cotta’schen Buchhandlung anbot. GSA 88/246,16 S. 1, © Klassik Stiftung Weimar

Ein bemerkenswertes Beispiel aus der Sammlung ist das Magdeburger Bruderbuch von 1514. Es handelt sich dabei um ein sogenanntes Kopialbuch, um eine handschriftliche Ausfertigung der Straßburger Bruderschaftsordnung, die der Magdeburger Haupthütte als Steinmetzordnung und Gerichtsbuch diente. Vermutlich wurde nach Auflösung des Magdeburger Gerichtsorts die Ordnung der nächstgelegenen Haupthütte in Frankfurt überstellt und später der Inhalt der Frankfurter Bruderschaftslade – in dieser Form wohl einmalig – ein wichtiger Grundstock des Sammlungskonvoluts. Ein weiteres herausragendes Dokument ist die älteste Archivale des Goethe- und Schiller-Archivs, datiert auf den 7. Januar 1296. Das Schriftstück hat keinen direkten Bezug zur Handwerksgeschichte und wurde vermutlich aus generellem Interesse an Mittelalterlichem bewahrt.

Die Sammlung, bestehend aus 32 Archivkästen, wird seit 1900 im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar aufbewahrt. In den Jahren 2022 und 2023 erfolgte eine umfassende Restaurierung und Konservierung der Bestände, unterstützt vom Weimarer Literaturarchiv und finanziert durch Sondermittel des Bundes. Trotz pandemiebedingter Einschränkungen konnte das Projekt erfolgreich abgeschlossen werden. Die Dokumente gewähren neue Einblicke in die Geschichte des Steinmetzhandwerks und stehen der Forschung dank vollständiger Digitalisierung und Aufbereitung über die Archivdatenbank des Goethe- und Schiller-Archivs zur Verfügung. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde der Nachlass nun erstmals durch eine Veröffentlichung der philologisch-historischen Klasse der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zugänglich gemacht.

Das älteste Archivale des Goethe-und Schiller-Archivs: Klage des Klerikers Werner von Nyvenheim wegen einer vakanten Pfründe in der Kirche von Gierath vor dem Kölner Offizial, datiert auf den 7. Januar 1296. GSA 88/248,1 S. 1, © Klassik Stiftung Weimar

Das Magdeburger Bruderbuch von 1514 gibt die Artikel der ausführlichen Steinmetzenordnung des Straßburger Hüttenverbandes wieder. Die Titelseite, GSA 88/256 S. 5, © Klassik Stiftung Weimar

Die ersten Artikel der Ordnung im Magdeburger Bruderbuch, GSA 88/256 S. 9, © Klassik Stiftung Weimar

Anfang der Namensliste der eingeschriebenen Meister und Gesellen im Magdeburger Bruderbuch. GSA 88/256 S. 39, © Klassik Stiftung Weimar

Neue Erkenntnisse der Bauhüttengeschichte

Bislang wurde die Geschichte des Steinmetzhandwerks im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit oft vereinfacht dargestellt: Im Verlauf des Mittelalters bis zum 15. Jahrhundert bildeten sich an Kathedralbaustellen sog. ‚Bauhütten‘, die sich unter Führung der Straßburger Haupthütte überregional zur sogenannten ‚Straßburger Bruderschaft‘ zusammenschlossen, um einheitliche handwerkliche Standards durchzusetzen. Mit der Reformation und dem damit einhergehenden Baustopp an den Kathedralbauhütten soll diese Institution jedoch rasch an Bedeutung verloren haben.

Die neue Edition zeigt jedoch ein differenzierteres Bild: Zum einen nahmen nicht zwangsläufig die Dom- oder Münsterbauhütten die führende Rolle im Handwerk ein, zum anderen erfolgte daher der Niedergang nicht unmittelbar durch die Reformation oder veränderte Stilpräferenzen.

Wie der neu gesichtete Simrock- Boisserée-Bestand im Goethe- und Schiller-Archiv zeigt, wurde der Begriff ‚Bauhütte‘1 bislang oft schablonenhaft verwendet und verstellte hierdurch den Blick auf die Vielfalt der handwerklichen Organisationformen. Für jeden Handwerksstandort ist vielmehr nach den lokalen Strukturen zu fragen. Die Vorstellung, dass sich freie, in (Kathedral-)Bauhütten tätige Steinmetze grundsätzlich von ihren zünftig organisierten Kollegen unterschieden, ist nicht haltbar. In Straßburg etwa war das Münsterhandwerk durch die Verwaltung des Frauenwerks eng an Stadtrat rückgebunden.

Auch das Hüttengericht als Institution der überregionalen Steinmetzbruderschaft setzte sich sowohl aus Mitgliedern des Münsterhandwerks und des städtischen Handwerks zusammen.

In anderen Regionen konnten Stadtwerke oder das Hof- und Landesbauwesen – je nach lokalen Machtverhältnissen, Bauorganisationen und Finanzierungsstrukturen – entweder die Funktionen und Gerichtsbarkeit der bruderschaftlichen Haupthütten übernehmen oder in Konflikt mit diesen geraten. Diese vielfältigen handwerklichen Strukturen eröffneten unterschiedliche Handlungsspielräume in Bezug auf Zugehörigkeit oder Konkurrenz zum reichsweit agierenden Steinmetzenbund unter Straßburger Führung, der sich als Elite zu etablieren versuchte – und das weit über die Reformation und das 16. Jahrhundert hinaus.

Der Straßburger Hüttenbund – Ein langer Einigungsprozess

Nach vorangegangenen vorbereitenden Treffen gaben sich im Jahr 1459 Steinmetzen vor allem aus dem süddeutschen Raum eine eigene Ordnung und schlossen sich zur sog. Steinmetzbruderschaft zusammen. Handwerksstandorten an Großbaustellen, an denen ein dauerhafter Baubetrieb zu erwarten war, wurde eine Haupthüttenfunktion zugesprochen. Die an diesen Orten tätigen Steinmetze sollten Leitungsfunktionen, wie das Sammeln der Bruderschaftsbeiträge oder das Schlichten in Streitfällen, übernehmen. Der Straßburger Münsterwerkmeister Jost Dotzinger versuchte sich mit der Straßburger Münsterbauhütte an die Spitze dieses neu geschaffenen Gefüges zu stellen. Jedoch wurde dieser Führungsanspruch bei weitem nicht überall akzeptiert. Schon wenige Jahre später formulierten beispielsweise die mitteldeutschen Handwerksverbände die Statuten um und ließen sie sich statt von Straßburg von Kurfürst Friedrich dem Sanftmütigen bestätigen.

Das hielt die Straßburger Münsterbauhütte jedoch nicht davon ab ihrerseits danach zu streben, dem 1459 formulierten Anspruch, oberste Haupthütte zu sein, auch tatsächliche Geltung zu verleihen. Ab 1498 konnte sie sich auf die Konfirmationen der Ordnung durch Kaiser Maximilian I. und ab 1502 auf das sogenannte päpstliche Privileg des Kardinal Raimund von Gurk stützen. Eine möglichst weite Interpretation dieser Dokumente sollte den Führungsanspruch in weltlicher wie in kirchlicher Hinsicht absichern.

Visierung des Glockenstuhls im Ulmer Münster aus dem 16. Jahrhundert. GSA 88/258 S. 135, © Klassik Stiftung Weimar

Konfirmation der Ordnung des Straßburger Hüttenverbandes durch König Maximilians I. vom 3. Oktober 1498, später als sog. kaiserliches Privileg bekannt. GSA 88/249,1 S. 1, © Klassik Stiftung Weimar

Konfirmation des Straßburger Hüttenverbandes als überregionale Bruderschaft durch den päpstlichen Legaten Raimund von Gurk, später als sog. päpstliches Privileg bekannt. GSA 88/265,1 S. 19,© Klassik Stiftung Weimar

Im Austausch mit Werkmeistern und Palieren,2 die Mitglieder der Bruderschaft waren, wurden die Ordnungen des Öfteren revidiert und teilweise abgemildert. Dass sich der Zusammenschluss langfristig als erfolgreich erweisen sollte, zeigt auch die Ernennung von zunächst zwölf, dann 22 weiteren Haupthütten im Verlauf des 16. Jahrhunderts, die als Straßburg untergeordnete Instanzen fungierten. Für die Zeit bis 1563 wurden diese Haupthüttenstandorte nun erstmals genauer untersucht. Dabei hat sich herausgestellt, dass es nicht eine vermeintlich überregional einheitliche Organisationsform ‚Bauhütte‘ gab, sondern die Haupthüttenfunktion von ganz unterschiedlich geprägten Strukturen getragen sein konnte: Steinmetzen konnten an einer der Aufsicht des Domkapitels unterstehenden Dombauhütte organisiert sein oder diese wurde – wie in Straßburg – von einer eng an den Stadtrat gebundenen Fabrika verwaltet; in Städten konnte sich aber auch ein amtsmäßiges Stadtbauwesen herausgebildet haben, dagegen ergab im Fall eines Landes- oder Hofbauwesen gegebenenfalls eine engere Einbindung in die höfischen Strukturen. Je nachdem wie das Nah- und Distanzverhältnis zur Obrigkeit ausgestaltet war, ergaben sich Spielräume für die Mitwirkung innerhalb der überregional Geltung beanspruchenden Steinmetzbruderschaft. Dass es dabei immer wieder zu Auseinandersetzungen kam, zeigt beispielsweise der langwierige, aber letztlich ungelöste Annaberger Hüttenstreit. Die mitteldeutschen Steinmetzen sahen offenbar keine Vorteile im Schulterschluss mit Straßburg und wandten sich daher an ihren Landesherrn. Gerade die Funktion einer Haupthütte als Gerichtsstandort war es, die auch handwerksexterne Akteure auf den Plan rief: Herrscher und Reichsstädte hatten oftmals kein Interesse daran, ihre Bürger der Zuständigkeit einer fremden Gerichtsbarkeit auszusetzen und Eingriffe in die eigenen Hoheitsrechte zu akzeptieren.

Auch wenn dem überregionalen Anspruch Straßburgs also erst nach und nach Geltung verschafft werden konnte und dieser nur in Abhängigkeit von den lokalen Organisationsformen und Interessen verschiedener Akteure inner- wie außerhalb des Handwerks verhandelt werden konnte, so zeigt sich doch an den immer wieder erneuerten Konfirmationen und dem langen Bestehen des Hüttenverbandes dessen Tragfähigkeit. Frühestens Ende des 17. Jahrhunderts verlor die Straßburger Haupthütte aufgrund der Eroberung der Stadt durch Frankreich seine Funktion als Gerichtsstandort.

Titelblatt und erste Seite der gedruckten Straßburger Bruderschaftsordnung von 1563 aus der Frankfurter Lade. GSA 88/253 S. 3, © Klassik Stiftung Weimar

Titelblatt und erste Seite der gedruckten Straßburger Bruderschaftsordnung von 1563 aus der Frankfurter Lade. GSA 88/253 S. 5, © Klassik Stiftung Weimar

Mit der nun vorliegenden Publikation zur Simrock-Boisserée-Sammlung ist der Aufschlag zu einer differenzierteren Geschichte des Steinmetzhandwerks und der Entstehung des Straßburger Hüttenverbandes gemacht. Die bisherigen Ergebnisse sind in Zukunft um weitere, beispielsweise monographische Forschungen zu einzelnen Hüttenstandorten zu erweitern. Als Grundlage dafür kann – wie einst schon von Boisserée intendiert – auch die vorliegende Edition des Nachlasses dienen.

1:

1 Bei ‚Bauhütte‘ handelt es sich um einen sozial- und kulturpolitisch aufgeladenen Begriff des 19. Jahrhunderts, der letztlich nicht mehr aussagen kann, als dass mehrere Steinmetze an einem Werk zusammenarbeiteten. Wie sich das Steinmetzhandwerk im Verhältnis zu weiteren Macht- und Einflussgefügen positionierte, muss jeweils lokal untersucht werden.

2:

2 Stellvertreter des Werkmeisters, der ebenfalls Leitungsaufgaben im Handwerk übernahm.