Text-Objekt mit Aura

Unboxing Faust II

20.03.2025 9

Zuneigung

Manche liebe Schatten steigen auf, wenn ich an Reisen mit meiner Mutter denke. 11-jährig stand ich mit ihr in sengender Hitze auf dem Weimarer Bahnsteig, kein Zug kam und wollte uns forttragen, nachdem wir ein typisches germanistisches Pflichtprogramm inklusive Nächte im „Elephanten“ verbracht hatten. Das Land, jung vereinigt, wirkte an dieser Stelle gerade noch wie unschlüssig, ob es sich selbst vor einen Zug werfen – falls denn einer käme – oder doch Satellitenantennen und Brockhausausgaben bestellen sollte, um sich zu wappnen vor dem, was es ahnte, aber noch nicht begreifen konnte und doch Zukunft genannt wurde. Der Bahnhof jedenfalls lag noch länger ruhig und gleisig, als wäre er begriffsstutzig und ohne Vision. Dem kam die Deutsche Bahn bei und erklärte ihm, dass die Welt nun (wieder) kommen würde und kommen wollte. Und so platzte Weimar, die Schote, 1999 vollends auf, als die Stadt Kulturstadt des Jahres wurde und man die immer noch eindringlich erinnerte Strumpfhose erwerben konnte, die „Gretchens Masche“ in Form von Goethes handschriftlicher Manuskriptzeile die Hinterseite des Frauenbeines hochschlängeln ließ.

Auf Neugierige zielend, die kommen würden, schließlich kamen, heute beständig kommen und in der Zukunft kommen werden, ist Weimar ausgerichtet. 1998 unterstützte meine Mutter eine plötzlich und heftig aufgetretene Liebesmanie ihrer einzigen Tochter, indem sie zu einer Reise nach Paris mit erhoffter kathartischer Wirkung drängte, dem Besuch des Musée d’Orsay und der Betrachtung des Gemäldes von Henri Fantin-Latour, das den schönsten Mann, den die Tochter jemals sah, ohne ihn je gesehen zu haben, zeigte, den ihr Herz so schnell wie heftig umschlungen hatte: Elzéar Bonnier-Ortolan, der sich im engen Kreis um Paul Verlaine und Arthur Rimbaud tummelte. Von seinem Antlitz hatte die Tochter in einer Biografie gelesen. Von diesem Bild hatte ich gelesen. Meine Mutter unterstützte also im wahrsten Sinne eine Pilgerschaft, deren Motoren Neugier, Fantasie und Bewunderung waren. Diese Art der Motorisierung ernst zu nehmen – dazu hat sie mich erzogen.

Vorspiel mit etwas Theater

Seit ich weiß, dass es ein Goethe-Wörterbuch gibt - zugegeben musste ich 42 Jahre alt werden, um dieses immense Unterfangen wahrzunehmen, zu verstehen, ja schambefreit zu nutzen - schlage ich es hin und wieder auf /// nein! Halt! So stimmt das nicht. Ich habe keine Version in Print vorliegen. Ich tippe in die Such-Zeile der Homepage der Uni Trier, um bei der Wahrheit zu bleiben. Und die Wahrheit tut Not. Ich werde darauf zurückkommen. /// und suche tastend (das kann ich wohl schreiben, weil es ja ein geistiges wie auch von Fingern gestütztes Tasten gibt) nach Begriffen und ihrer Verwendung im Goetheschen Gedanken- und Werk-Gesamtgebäude. Und weil ich mich - sirenenhaft herangerufen aus der Ferne - aufmachen sollte, nach Weimar zu reisen und eines Manuskripts angesichtig zu werden, zwangsläufig und sehr gerne mit dem Thema Bewunderung beschäftige, habe ich mal nachgeschlagen, denn so kommandirt die Poesie.

Verse 4613 bis 12111

Und siehe da! Das Omen, es ist eindeutig, denn die erste Ausführung im erwähnten Wörterbuch zitiert eine Stelle aus just dem Manuskript, das ich besuchen soll.

Vers 10045 wartet mit Bewunderung auf, denn da spricht Faust sinnend mehr zu sich (und damit zum Publikum) als zu seinem bocksfüßigen Reisebegleiter über die kommode Wolke, auf der er im Gebirge angelangt ist und die ihm folglich Reittier oder besser schwebender Diwan war: Sie löst sich langsam, nicht zerstiebend, von mir ab. / Nach Osten strebt die Masse mit geballtem Zug, / Ihr strebt das Auge staunend in Bewundrung nach.

Ich bin also in Weimar. Im Ganzen wohl zum vierten oder fünften Mal in meinem Leben, das ja auch Poetry-Slam- und Poesiefilmepisoden enthält. Diesmal besuche ich aber keine lebendigen Poeten, ich pilgere zu einer Schrift, einem Konvolut, einem Stück deutscher Dichtung, dem mein Vater – immerhin auch ein Dichter deutscher Sprache – große Bewunderung zollt, sagt er doch immer: „Der zweite Teil ist modern! Das interessiert. Nur das!“

Faust. Zweyter Theil wohnt als Sammlung verschiedener, fein ineinandergefügter Munda in Schachtel Nummer 32 des Goethe- und Schiller-Archivs an der Jenaer Straße 1 in Weimar. Das Konvolut liegt in einer eigens maßgefertigten Manuskriptbox, und an dieser Stelle ist es fast Goethesche Morphologie, spricht man doch statt vom Schädel, den Organen, von Vorderdeckel, Hinterdeckel und von 43 Lagen, die den Körper, die Gestalt ausbilden. Diese umfasst die Verse 4613 bis 12111 der gesamten Faust-Dichtung, und es wurde mir erstaunlich feierlich zumute bei ihrer Betrachtung und geistigen Betastung, die ich mit Dr. Ariane Ludwig vornehmen durfte. Ich schwöre, unsere Herzen flatterten, als wir beide – sie zweifellos schon öfter, ich aber zum ersten Mal – dieses immense Zeugnis – unboxten – und wir bisweilen verzückt aufjauchzten. Hashtag goosebumps! Mit braunem Marmorpapier verstärkte Pappen umarmen die Lagen. Faust II erscheint karamellen, venezianisch gemustert, Zellen und Ströme wollen sich dem Auge mitteilen, und der etwas über die Mitte gesetzte Titelaufkleber auf dem Cover hat in seiner Form etwas von einer erjagten schön gekürschnerten Tierhaut, so ausgestreckt und von „Goethehand“ John mittig beschriftet mit

Faust.
Zweyter Theil
1831.

Mit einem leuchtenden Gruß an die Feuerwehr: Die Boxen mit den Faust­-Manuskripten sind im Goethe­- und Schiller­-Archiv durch einen roten Aufkleber mit der Ziffer 1 als besonders wertvoll gekennzeichnet

Beigesetzt hätte noch ein wilder Ritt, Zweithochzeit, von Macht zu Ohnmacht, Hexen, Hexen und die Himmelfahrt gehört. Aber wir sind ja ganz offensichtlich nicht in der Schmiede einer Literaturagentur anno 2024 oder bei Alfred Döblin, der diese Art des Ouvertürenartigen in sein Erzählen integrierte. Wir sind über den Dächern Weimars, sogar über denen des Schlosses. Goethe und Schiller sind architektonisch über Weltliches erhoben.

Die Bindung der feinsäuberlich zueinandergelegten Lagen – ein herrlicher Blätterteig! – ist in Aktenstichheftung und drei schmalen Pergamentriegeln (etwa so breit wie ladenübliche Eisstiele aus Holz) gefertigt. Während diese auf der Rückseite des Vorderdeckels unter dem Spiegel geführt werden, sind sie auf der Rückseite des Hinterdeckels sichtbar. Geradezu neckisch. An dieser Stelle der Betrachtung beweist Papier wieder einmal seine ganz eigene still-gewaltige Kraft der kulturellen Bindung, der handwerklich-tradierten Raffinesse. Damit wird das Ganze als Gestaltung sicht- und begreifbar, und ich überlege mit Dr. Ludwig, wie Autor Goethe seine Schriften sammelte, verwahrte, was er verwarf, wie er den Buchbinder zu Besuch hatte, selbst manchmal eine Bindung vornahm, Bindungen löste. Hashtag absichtsvolles Wortspiel. Goethe, der Sammler, ist hinlänglich beforscht. Er sammelte Autografen, Noten und natürlich Briefe, sammelte italienische Keramiken, Naturalia, Grafiken und Malereien. Er sammelte Werkstufen und Abschriften.

Schachtel Faust II trägt die rührende Kennzeichnung mit der rot umkreisten 1, was bedeutet, dass die in Weimar in solches eingeweihte Feuerwehr diese Schriften priorisiert retten wird. Schiller, Nietzsche, Liszt und Büchner stehen auf dem Rettungstreppchen weit oben. Hoffentlich bedarf es solcher Maßnahmen nie. Hoffentlich bleibt der Schrein, den Großherzogin Sophie um den Goethe-Nachlass bauen ließ, für immer verschont von Feuern, Wasser und der Politik, die ihm ans Leder seiner Bände wollte!

Doch bleiben wir auf Ameisenhöhe, und ziehen wir weiter unsere Schlüsse über das Text-Objekt mit Aura. Der dritte Akt lässt sich leicht bei Betrachtung des entzückenden Rückens der Schrift auffinden, bestehen doch die Lagen, die für seine Verse verwendet wurden, aus Manuskriptseiten geringerer Blatthöhe. Das hat etwas seltsam Inhaltsweisendes: Hier „hinkt“ der ganze Band und mit ihm sein titelgebender Protagonist. In diesem Akt nämlich begehrt der vom shape shifter Mephisto protegierte Faust seine zweite schicksalsbildende Frau, und es erscheint und stirbt das zweite Kind des Faust. Lapidar gesagt und kalt: Er ist einfach kein family man.

Wenn man ein solches Werk in seiner Manuskriptgestalt aufsucht, es mumienartig in seinem Sarkophag, jedenfalls sehr alt, aber noch rüstig vorfindet, dann kann man nicht umhin, es zu bewundern. In ihm vollendet sich das Lebenswerk des großen Dichters oder kommt, wie man es phänomenologisch heute gerne nennt: full circle nach sechs Dekaden Arbeitsspanne. Man sucht es auf, wie man einen sehr alten berühmten Menschen aufsuchen würde. Man bedenkt ein Gastgeschenk, bringt letztlich weniger Konfekt als vielmehr Neugierde mit und hat großes Verständnis für die Ausdehnung der Zeit und die Weichheit aller Kissen, die um die nicht mehr gut gepolsterten Knochen (oder Buchrücken) gebreitet werden. Möge nur einer später auch so mit uns verfahren, wenn wir selbst ein Buch mit Siegeln geworden sind, diese gebrochen, siebenzahlig oder sperrangelweit offen liegen. Beim Besuch von Senior Faust II muss man sich – so ist es Archiv-Brauch und -Gesetz – allen Ballasts entledigen, muss von Fotografie und Kugelschreiber für Notizen Abstand nehmen und kann ausschließlich dem Geist und dem Bleistift anvertrauen, was man ergründet. Als die beiden Frauen mit jauchzenden Betrachterherzen standen Dr. Ludwig und ich also beim Besuch im Wohnzimmer des Seniors, wandten Blick, metallenen Spatel und Detailfragen an, halfen dem Senior hier und da, indem wir ihn sanft mit Schaumstoff umlagerten. Als „pflegende Angehörige“ kenne ich das Phänomen sehr gut: Man bettet den alten Körper weich und bewusst, versucht Erschlaffungen, Schmerzen und Abreibungen vorzubeugen. Aktiv gestützt kann das alte Corpus dieser Schrift, die an Stärke etwa acht Zentimeter aufweist, erstaunlich leuchten, wirken, tief in einen Teil des Herzens greifen, in dem einem alles Deutsche auseinanderstäuben will. Statusanzeige: Es ist kompliziert.

Auch nicht leicht ist die Entzifferung, obwohl alles so rein und klar im Schriftbild vor einem steht. Das heißt, es bedarf der Übung nach kurzer Einführung in die Kurrentschrift. Dann geht es. Dann kann man tatsächlich dem Geist von bald 200 Jahren um einiges näher rücken, und es will einem ein Hauch der Erleichterung und des zufriedenen Lebensbeschlusses des Autors anwehen, war dieses Drama doch tatsächlich eines, das Goethe bis zum Ende verfolgte. Ganze 445 Manuskripte zu Goethes Arbeiten an den Faust-Dramen finden sich im Goethe- und Schiller-Archiv. Als begeisterter Trekkie wäre ich für die Einrichtung von Holodecks in Archiven, um erwähnte „Textzeugen“ in Fleisch und Hologramm erstehen zu lassen. Sie durchschritten dann mit mir als personifizierte Briefe oder Artikel römische Straßen, Frankfurter Gassen, Weimarer Lande und erzählten mir von der Konzeption der Helena, der dringend nötigen Erweiterung der Faustschen Weltenreise, ließen Schiller und Wilhelm von Humboldt als lebhafte Gesprächspartner erstehen. Und führten einem Goethe als bestimmenden Diktierer seiner Werke vor, der die Hörfehler seiner nach Diktat schreibenden „Hände“ mal kopfschüttelnd, mal amüsiert ausbesserte. Mal übernahm? Das Holodeck des Archivs liegt, was Goethe betrifft, in 521 Kästen, säurefrei, trocken und temperaturstabil, bisher von tieferen Eingriffen jeglicher KI weitestgehend unbehelligt. Wenn die Wissenschaft, alle Neureichen und die Lebensgierigen fragen, wie man longevity erreicht und sie bei der Kryotechnik angelangen und der Menschheit anbieten, ihre Köpfe als Behälter des Geistes futuristisch zu verwahren, so weise man ihnen alternativ den Weg nach Weimar. Dort liegt der Geist, der nur auf Köpfe wartet, ihn weiter zu verstehen.

Anstatt der ohnehin verworfenen Abkündigung

Zur Vorbereitung auf meinen Besuch in Weimar sah ich mir die atemberaubende, kreischende, eindrücklichst gespielte Inszenierung des Faust I und II des Frankfurter Schauspiels unter der Regie von Jan-Christoph Gockel an. Vier Stunden folgten wir Faust, der über die längste Zeit eine Puppe war. Be- und gespielt von vielen Händen, verwendet und bewegt vom Willen anderer; Mahnung und Monster zugleich. Zum ersten Mal sah ich, dass Faust I mit dem Überleben endet und Faust II mit dem ewigen Leben.

Nachdem ich das beeindruckende Faksimile und meine Notizen schloss

„Liebe Frau Dr. Ludwig, haben Sie vielen Dank für Ihre Zeit und Geduld, das bereitwillige und so kundige Beantworten meiner Fragen und das gemeinsame Bestaunen dieses alten Corpus. Wie wir ihn bewegten, legten, betteten. Wir zwei Frauen, die am Gedächtnis eines großen Gedanken stemmen. Ich habe viele Eindrücke mit nach Bamberg genommen. Kommen Sie unbedingt einmal vorbei! Hier machte E.T.A. Hoffmann einst einen längeren Boxenstopp. Damit muss die Stadt heute noch klarkommen. Sehr herzlich nach Weimar grüßend,

Ihre Nora Gomringer“

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