
Cécile Wajsbrot
Jahresempfang 2024
“The time is out of joint”
1
Wir waren es zumindest auf dem europäischen Kontinent nicht mehr gewohnt, von Kriegen zu sprechen und reden zu hören. Dabei hat es immer Kriege gegeben, und zwar schreckliche, in Afrika, in Asien... Dabei hatte in den 90er Jahren der Krieg in den Ländern des ehemaligen Jugoslawien Europa erneut heimgesucht. Aber das Gedächtnis ist kurzlebig und Gefühle verfliegen schnell, und es ist, als kehrte der Krieg seit der russischen Invasion der Ukraine zum ersten Mal auf unseren Kontinent zurück. Zu dem Zeitpunkt, an dem ich diesen Text schreibe, und vermutlich auch zu dem, an dem ich ihn vorlesen werde, hat dieser Krieg einen anderen im Nahen Osten als Doppel, ausgelöst von dem entsetzlichen terroristischen Massaker der Hamas. Es ließ einen Konflikt wieder aufflammen, der, so wie ein Fluss mal unterirdisch, mal oberirdisch fließt, stets gegenwärtig war.
Macht im Grunde nicht viel mehr die Zeit den Unterschied? Der Kontext, in dem die Dinge, die Ereignisse geschehen? Das Gedächtnis ist ökologisch, denn es entwickelt sich in einer Umgebung, und was in dieser Umgebung vorgeht, wovon darin die Rede ist, lässt es nicht gleichgültig, keine dichte Wand trennt das individuelle vom kollektiven Gedächtnis. Wir haben den Eindruck, der Krieg sei jüngst in eine bis dahin friedliche Welt eingebrochen, aber in Wahrheit war der Krieg da, ohne dass wir in unserem privilegierten Leben seine Anwesenheit wirklich wahrgenommen hätten, trotz der Attentate und anderer Gewaltakte, die manchmal zu uns drangen. Offen gesagt betraf der Krieg uns nicht. Er gehörte zur Erfahrung der Generationen vor uns, und in der Gegenwart, in der nur eine verschwindende Minderheit der Bevölkerung den Zweiten Weltkrieg erlebt hat, war uns die Existenz des Krieges zwar bewusst, natürlich, aber er gehörte nicht zu unserer Lebenserfahrung, er stand brav an seinem Platz im Regal der vergangenen Zeiten – er gehörte dem Gedächtnis an. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, bis vor Kurzem war die Zeitlinie eine klare Gerade mit leicht erkennbaren Abschnitten.
2
Buchenwald liegt acht Kilometer von Weimar entfernt oder Weimar acht Kilometer von Buchenwald. Auf den Höhen des Ettersbergs stand in dem Wald, in dem Goethe gern spazieren ging, eine Jahrhunderte alte Eiche, in deren Schatten der Dichter oft sinnend saß. Dort soll ihm die Eingebung zur Walpurgisnacht im Faust II gekommen sein. 1934 wurde der Wald teilweise gerodet, um darin das Gelände für ein Konzentrationslager abzustecken, das den bukolischen Namen Buchenwald trägt. Mitten in der eingeebneten Landschaft steht dort einsam die Goethe-Eiche. Eine Legende knüpft das Los dieses Baumes an das Los Deutschlands: Fällt der Baum, wird das Deutsche Reich zusammenbrechen. Durch die düstere Geschichte des Lagers hin bleibt die Eiche stehen und der Baum, der über die nicht endenden Appelle, über die Verbrennungsöfen wacht, ist nicht nur der ohnmächtige Zeuge des Martyriums, er wird auch zum Ort von Folter und Erhängung. Anders als manche Kommentare behaupten, betrachteten die Deportierten ihn keineswegs mit Nostalgie, sondern mit einem Schrecken, den furchtbare Einzelheiten veranschaulichen – die Hunde rissen seine Rinde herunter, wenn sie versuchten, zu den Leichnamen hinaufzuspringen. Im Frühjahr 1942 wächst sein Laub spärlich und fällt bereits im Sommer ab. Im Jahr darauf bleibt der Baum kahl und die Deportierten sehen darin ein Hoffnungszeichen. Wird er endlich fallen und das Reich mit ihm? Aber die Eiche bleibt stehen. Im August 1944 treffen die amerikanischen Bombardierungen der nahegelegenen Waffenfabrik ein Gebäude des Lagers, Feuer bricht aus und springt auch auf die Eiche über. Die ganze Nacht brennt der Baum. Wir schauten zu, wie der Baum niederbrannte, erzählt der Häftling Nr. 4935 in einem Bericht vom November 1945. Für uns war es kein Baum, sondern ein Ungeheuer mit riesigen Tentakeln, das sich im Wind krümmte. Der Stamm zersplittert und am 24. August 1944 erhalten die Deportierten die Erlaubnis, ihn zu fällen. Die Prophezeiung wird beinahe wahr – der Zusammenbruch des Reichs steht recht nah bevor. Ist es Goethes Baum, den die Bombardierungen zerstört haben? Nein, denn für die Deportierten gibt es Goethe schon lange nicht mehr – Himmler hat ihn vernichtet.
Weimar liegt etwa zehn Kilometer von Buchenwald entfernt und man fährt eine Viertelstunde mit dem Bus, um hinzugelangen. Eine Viertelstunde zwischen zwei Welten, die schwer miteinander zu vereinbaren sind. Wie zwei parallele Wirklichkeiten, wie diese Zeitspalten, in die Science-Fiction-Figuren manchmal fallen. Auf einmal befinden sie sich – und wir mit ihnen – in einer anderen Welt. Zwischen beiden kein Weg, sondern eine beunruhigende Gleichzeitigkeit. Etwas durchbricht die Kontinuität von Raum und Zeit, die geistige Kontinuität. Einbruch, Unterbrechung. Wie lässt sich die Gleichzeitigkeit zweier unvereinbarer Gegenwarten denken?
Und außerhalb von Büchern und Science-Fiction-Filmen, im Leben, tun wir da nicht so, als könnten wir von der einen zur anderen übergehen, während wir in Wirklichkeit in der Welt schlafwandeln? Zumindest nehmen wir es subjektiv so wahr: eine Wirklichkeit, die von einer anderen unterbrochen wird. Denn alles kündigt sich an, allerdings werden die Vorzeichen nicht immer gesehen oder verstanden. Es ist ein wenig wie mit dem Schiff des Theseus. Zu seiner Erhaltung ersetzten die Athener, weil das Holz alterte, nach und nach die Planken. Die neuen Teile werden immer mehr, bis es keine einzige Originalplanke mehr im Schiff gibt. Kann man also noch vom Schiff des Theseus sprechen? Plutarch erzählt diese Geschichte in seinen Parallelbiographien und verbindet sie mit einem philosophischen Problem „über die Natur der Dinge“. Handelt es sich um dasselbe? Handelt es sich um ein anderes? Die Erschütterung der Welt ist in gewisser Hinsicht damit vergleichbar. Alles scheint gleich, während in Wahrheit alles anders ist. Das Schiff des Theseus trägt denselben Namen, aber etwas ist anders. Seit Buchenwald trägt Weimar denselben Namen, aber etwas ist anders. Und unsere Welt sieht noch genauso aus, aber seit einer Weile ist sie nicht mehr dieselbe.
3
Am Ende des ersten Akts erfährt Hamlet von Horatio, dass seit einer Weile ein Gespenst umgeht. Es ist Mitternacht und pünktlich erscheint der Geist, er winkt Hamlet und offenbart ihm, dass er nicht, wie es hieß, an einem Schlangenbiss starb, sondern ermordet wurde – von Hamlets Onkel Claudius, der nun König von Dänemark ist –, und verpflichtet Hamlet zur Rache. Dies verändert Hamlets Weltwahrnehmung vollkommen, es gibt fortan ein Vorher und ein Nachher, das Ereignis und seine Offenbarung verwandeln den Rest in unbeseelten Dekor. Remember me sind die letzten Worte des Gespensts, bevor es den Schauplatz des 1. Akts verlässt. Dies und nichts anderes mehr, sagt Hamlet im anschließenden Monolog, soll fortan in meinem Gedächtnis leben – in this distracted globe. Diese Formulierung geht der bekannteren voraus, die Derrida in Spectres de Marx mit verschiedenen Übersetzungen ausgelegt hat, the time is out of joint. Die Wahrnehmung des Raums ist derjenigen der Zeit vorausgegangen – das Aus-den-Fugen-Sein der Welt, ihr Chaos, führt zum Aus-den-Fugen-Sein der Zeit, dem es vorausgeht.
4
Als Thomas Mann 1949 zur Zweihundertjahrfeier von Goethes Geburtstag eingeladen wurde, sagte er unter der Bedingung zu, dass er, wenn er nach Frankfurt komme – es war seine erste Rückkehr nach Deutschland, seit er in die Vereinigten Staaten ins Exil gegangen war –, auch nach Weimar kommen werde, das nicht weniger Goethe-Stadt war als Frankfurt. „Ich kenne keine Zonen. Mein Besuch gilt Deutschland selbst, Deutschland als Ganzem, und keinem Besatzungsgebiet.“ Diese Erklärung lässt sich auf zwei gegensätzliche Weisen lesen: Als Anerkennung der Teilung Deutschlands und als Weigerung, zu ignorieren – wie es die Bundesrepublik lange getan hat –, dass es ein „anderes Deutschland“ gibt, um die damaligen Begriffe aufzunehmen, kurzum: wenn Frankfurt, dann auch Weimar. Oder als Leugnung der seit 1933 verstrichenen Jahre und somit als zumindest symbolische Rückkehr zu einer Zeit davor, zu der Zeit, in der Deutschland „als Ganzes“ existierte. Derjenige, der in seinem Exil und seinen Botschaften, die er aus der Neuen Welt an die Deutschen sandte, gesagt hatte „Wo ich bin, ist Deutschland“, ersetzt einen geographischen durch einen symbolischen Raum, und dieser beruht auf Literatur und Sprache – so wie Polen trotz der aufeinanderfolgenden Teilungen durch das ganze 19. Jahrhundert hin in Kunst und Sprache weiterexistierte, auf seinem Territorium und dank seinen Exilierten wie Chopin oder Mickiewicz. Indem er auf einen metaphorischen Raum setzt, schafft Thomas Mann einen Ewigkeitsraum, eine Zeit im Stillstand, in der die Bezugsgrößen für immer bleiben, was sie sind. Keine Zonen, keine besetzten Territorien, sondern ein ideales, phantasmatisches Land, das die Teilung aufhebt, und zwar nicht diejenige zwischen einem Osten und einem Westen, sondern, um noch einmal die Begriffe von Thomas Mann aufzunehmen, zwischen ihm, „der den Hexensabbat von außen erlebte“, und denen, die „mitgetanzt haben“. Um diese Teilung mit größerer Sicherheit aufzuheben, kommt er nur auf einen Besuch vorbei und bleibt nicht. Im Flüchtigen sein, um ein Ewiges zu bewahren – das der Kultur und der Sprache.
5
Welches Ereignis hat unsere geordnete Wahrnehmung von Raum und Zeit definitiv getrübt und aus den Angeln gehoben? Als Hamlet dem Horatio andeutet, was ihm das Gespenst mitteilte, nämlich There’s never a villain dwelling in all Denmark/ But he’s an arrant knave, gibt Horatio ihm zurück, There needs no ghost, my lord, come from the grave/To tell us this. Das war bereits bekannt, und so war alles bereit, um das anscheinend unvermittelt hereinbrechende Ereignis aufzunehmen. Auch wir stehen an diesem Punkt. Wir wussten es und dennoch wirkt etwas als Offenbarungsfaktor, etwas bricht verstörend in die dem Anschein nach friedliche Kontinuität ein, in der wir uns bewegten. Ihre zerfetzten Umrisse schneiden sich in die bewegungslose Einförmigkeit der Zeit und zerreißen den Dekor, sie bringen das zerklüftete Relief zum Vorschein und vor allem das aus den Fugen Geratene der Zeit, ihr out of joint. Joint, was vereint, verfugt, out of joint, was uneins ist, die Diskontinuität, alles, was die Dinge daran hindert, an dem Platz zu sein, an den sie in Raum und Zeit gehören, das heißt: die Vergangenheit in der Erinnerung, die Gegenwart in der gelebten Erfahrung, die Zukunft in der Perspektive.
Ragle Gumm, die Hauptfigur des 1959 erschienen Romans Time Out Of Joint von Philip K. Dick, erlebt darin mehrmals ein Déjà-vu. So hat er beispielsweise beim Anblick eines Gebäudes das deutliche Gefühl, es bereits betreten zu haben, obwohl es erst im Modellzustand existiert. Dem Anschein nach lebt Gumm im Jahr 1959, tatsächlich aber kommt er aus einer Zukunft, in der er eine wichtige Aufgabe hat. Die Erde führt Krieg gegen Kolonisten des Mondes und er ist in eine rekonstruierte künstliche Vergangenheit zurückgeschickt worden, um sie zu retten. Ein paar weitere Erzählstränge lassen wir beiseite, weil es hier vor allem um die Feststellung geht, dass sich die Zeiten verwirren und es schwierig ist, Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft auseinanderzuhalten. Eine Verwirrung, die auch die Grenzen zwischen einer „wirklichen“ und einer „rekonstruierten“ Realität betrifft. Sind wir damit denn so fern von Fake News und ihren zum Zweck der Desinformation mit künstlicher Intelligenz nachgeschaffenen Bildern, von den entwendeten Bildern, die irgendwann einmal irgendwo aufgenommen wurden und in anderen Zeiten für andere Umstände verwendet werden?
Der Krieg, in dessen Schatten ich schreibe, spielt sich – vielleicht zum ersten Mal – im Konditionalis ab. Nicht, dass er nicht real sei, aber alles, was damit zusammenhängt, steht unter Vorbehalt oder wird so interpretiert, wird als Vorwand genommen, um dem Hass freien Lauf zu lassen. Die Angaben von Verlustzahlen stammen entweder von der israelischen Armee oder vom Gesundheitsministerium der Hamas – dieser einschränkende Zusatz verhindert jede Gewissheit. Manche Bilder können sich auf ein anderes Datum oder auf einen anderen als den angegebenen Ort beziehen. Die Untergeschosse des Al-Schifa-Krankenhauses dienen der Hamas vermutlich als Waffenlager und vielleicht mehr als das, aber es ist nichtsdestotrotz ein Krankenhaus. In diesem Krieg ist es, als ob alles zugleich sei und nicht sei. Da es keine „neutralen“ Zeugen gibt, etwa unabhängige Journalisten vor Ort, erreichen uns die Berichte in Form von Kommuniqués und Zeugnissen von der einen und der anderen Seite, die zum Beweis der Unparteilichkeit nebeneinander gestellt und oft in gleicher Gewichtung ausgestrahlt werden. Aber bloß weil die Waage zwei Schalen hat, sind sie noch lange nicht ausgewogen. In diesen im Namen der Objektivität erstellten Collagen neigt sie mal zu der einen, mal zu der anderen Seite. Mit unsicheren Schritten tasten wir uns in eine unbekannte Richtung vor.
6
Mit der Klimakrise sind wir in eine Welt gelangt, in der Raum und Zeit wie im Hamlet unkenntlich geworden sind. Distracted globe, Sphäre, abgelöster Globus, geteilt, zergliedert, weil früher bewohnbare Räume nun unbewohnbar sind oder es allmählich werden, weil jetzt noch unbewohnbare Räume – der äußerste Norden und der äußerste Süden des Planeten – dann, wenn die Eisflächen noch weiter abgeschmolzen und die gefrorenen Meere eisfrei sind, ihrerseits bewohnbar sein werden. Die Weltkarten werden neu gezeichnet werden müssen. Viel mehr noch trübt sich jedoch unsere Wahrnehmung der Zeit. Ein Geschehen, das uns einer weit entfernten und also fast unwirklichen Zukunft vorbehalten schien – das Ende der menschlichen Spezies –, wird mit einem Mal zu einer vorstellbaren Möglichkeit, deren Zeit sichtbar wird am Horizont einiger Generationen. Die Frist hat sich jäh verkürzt und diese Neuanpassung der Sichtweise erzeugt eine Schockwirkung – wie ein allzu starkes Licht, das blendet, anstatt zu erhellen. Dabei hatte Günther Anders in Die Antiquiertheit des Menschen – im ersten, 1956 erschienen Band – gewarnt, dass der Mensch von seinen Erfindungen überholt wird und Mittel zu seiner eigenen Zerstörung (in dem Falle die Atombombe) geschaffen hat, die er nicht mehr beherrscht. Die Perspektive einer plötzlich begrenzten Dauer zwingt uns außerdem, in mehreren Zeitlichkeiten zugleich zu leben. Die Zeit, in der wir leben, mit ihren Gewaltsamkeiten und ihren Kriegen, ihrer Barbarei und ihrer Verzweiflung kollidiert mit den heranrasenden Daten einer Zukunft, die als apokalyptisch vorgestellt und erlebt wird. Der Horizont 2050, im besten Fall das Jahrhundertende oder gar der Horizont 2030. Plötzlich erscheinen uns die Planeten des Sonnensystems, deren Erforschung uns, so hieß es, helfen sollte, die Geschichte der Erde zu verstehen, nicht als ein Bild ihrer Vergangenheit, sondern ihrer Zukunft. Wer weiß, ob es nicht auf diesem oder jenem Planeten die eine oder andere Form von Leben gegeben hat, das infolge eines Ereignisses, wie es uns vielleicht noch erwartet, verschwunden ist?
Time is out of joint. Die Dringlichkeit des Klimawandels und die Notwendigkeit, unsere Lebensweise grundlegend zu verändern, treten mit den Dringlichkeiten des Weltzustandes in Konflikt. Der Krieg in der Ukraine, mit dem die europäische Abhängigkeit vom russischen Gas zutagetrat, hat keineswegs die Suche nach erneuerbaren Energien, die es ersetzen könnten, beschleunigt, sondern die Suche nach anderen Gasquellen. Dabei sind diese aus anderen Gründen, darunter auch andere künftige Konflikte, nicht weniger problematisch. Der terroristische Angriff der Hamas, dann die Gewalt der israelischen Antwort ziehen heute die gesamte Aufmerksamkeit auf sich und drängen Umwelt- und Klimafragen aus dem Gesichtsfeld des kollektiven Bewusstseins. Wie für Hamlet, der die Wahrheit über den Tod seines Vaters erfährt, tritt der gesamte Rest in den Hintergrund, wird zum unbeseelten Dekor. Zum ersten Mal – ist es wirklich das erste Mal? – haben wir das Gefühl, dass die Vergangenheit uns nicht dabei hilft, die Gegenwart zu verstehen, sondern dem vielmehr im Wege steht. Mit ihren Erinnerungen, ihren Metaphern, ihren Ereignissen, die heraufbeschworen werden, um die aktuellen Ereignisse zu beschreiben (Angriff der Hamas und 11. September, russische Invasion der Ukraine und je nach Quelle Erster oder Zweiter Weltkrieg, Israel und die Kolonialmächte) hindert sie eher daran, die Situation in ihrer radikalen Neuheit zu fassen. Hingegen hilft uns die Wiederkehr der Kriege im kollektiven Gedächtnis, die Vergangenheit zu verstehen, das, was unsere Großeltern oder unsere Ahnen wohl erlebt und durchgemacht haben, die Angst nicht vor dem kommenden Tag, sondern vor dem heutigen, die Suche nicht nach dem Leben, sondern nach dem Überleben. Die homerischen Epitheta treten wieder auf den Plan, um den Feind zu charakterisieren – der Feind, dieser eine Weile lang sinnentleerte Begriff, der sich nun erneut bis an den Rand füllt. Vielleicht wird das 21. Jahrhundert, um die Worte Hobsbawms aufzunehmen, ein kurzes Jahrhundert sein, kürzer noch als das vorhergehende, vielleicht hat es 2020 mit der Pandemie begonnen, die das Ende vom Traum menschlicher Allmacht markierte, und vielleicht wird es zu einem noch unbekannten, aber nicht allzu fernen Zeitpunkt enden, falls nicht für die menschliche Gattung, so doch für einen Teil davon, der unerträglichen Klima- und Umweltbedingungen zum Opfer fallen könnte – ohne von den Kriegen und Konflikten zu sprechen, die schon heute Folgen der Klimakrise sind und von denen es noch viel mehr geben wird. Bereits die Hälfte der Migrationsbewegungen hat Klimaveränderungen zum Anlass – die zunehmende Dürre verbreitet Hungersnöte und Elend. Anstatt jedoch das Offensichtliche, die künftige Zunahme solcher Bewegungen einzugestehen, werden Mauern errichtet, Grenzkontrollen verstärkt, wird die Seenotrettung verboten – ein verzweifelter Kampf, umso verzweifelnder, als er unmöglich ist, ein Damm gegen den Pazifik, um den Titel von Marguerite Duras’ Roman aufzunehmen, oder vielmehr gegen das Mittelmeer.
7
The time is out of joint. Der Ort, an dem wir leben, gewinnt Ausdehnung durch das Radio, das zu Thomas Manns Zeit eine bedeutende Rolle zu spielen begann – heute steht dieses Radio neben einer zunehmenden Vielzahl weiterer Quellen von Information oder auch Desinformation –, der Ort, an dem wir leben, erstreckt sich bis zu den Orten, von denen wir reden hören, Orte der Ereignisse, die uns beunruhigen und unsere Aufmerksamkeit verlangen. Die Konflikte greifen nun auf andere Zonen über – der Nahe Osten braucht keine Migrationswellen, um Europa zu erreichen, und so steht alles bereit für den Zusammenstoß, für Attentate, für die Übertragung des Konflikts auf unseren Schauplatz, wo in der Kulisse geduldig die Extreme Rechte wartet. Die Namen anderer Orte begleiten uns, sie wandeln sich rasch. Zu dem Zeitpunkt, an dem ich diesen Text schreibe, werden zuvor allgegenwärtige Namen wie Donezk oder Cherson nicht mehr genannt. Jetzt sind es Gaza, Rafah und andere. Die Nah-Ost-Experten sind an die Stelle der Ukraine- und Russland-Experten getreten, so wie seit der russischen Invasion Militärvertreter die Ärzte der Pandemie abgelöst haben. Wer weiß, welche Namen im Umlauf sein werden, wenn ich diesen Text vor Ihnen lese? Unsere geistigen Karten sind in unentwegter Bewegung, nur die Gegenwart ist nun noch sicher, eine auf den Augenblick reduzierte Gegenwart, perspektivlos, wurzellos, im Leerlauf. Die Gefahr ist, sich Hals über Kopf in Vergessen und Verleugnung zu stürzen oder mit der Gewaltsamkeit der Zeiten zu gehen. Um die Zeit zu reparieren, sollte Hamlet den Mord an seinem Vater rächen – dann würde der Fluss der Welt wieder weiterströmen. Und wir, was sollen wir tun, „to set it right“? Vielleicht sollen wir uns der Wörter und Bilder entledigen, die von allen Seiten auf uns einregnen, die wir in den Nachrichten aller Art hören, lesen und sehen. Vielleicht sollen wir versuchen, in der Stille der Musik und der Literatur eigene Worte und eigene Gedanken zu finden. Vielleicht sollen wir uns vom Bann des Augenblicks befreien und den Blick weiter in die Ferne richten, in die Vergangenheit wie in die Zukunft… Nicht versuchen, schneller als das Denken zu denken. Vielleicht finden wir dann etwas, das verfugt, die Eintracht der Zeit.
Übersetzt aus dem Französischen von Esther von der Osten
Esther von der Osten ist Lehrkraft am Peter-Szondi-Institut der FU Berlin und Übersetzerin, u. a. von Werken von Hélène Cixous, Jacques Derrida, Jean-Luc Nancy.
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