Landtagswahl in Thüringen

Zur Freiheit der Kunst

Art: Artikel Autor: Ulrike Lorenz
21.08.2024 8

Stiftungspräsidentin Ulrike Lorenz sprach am vergangenen Montag auf der Kundgebung BOCK AUF KUNST. Die Aktion setzt sich für Kunstfreiheit und die Vielfalt von Kunst ein. Lesen Sie jetzt ihre Rede!

Liebe Leute,

als Präsidentin der Klassik Stiftung Weimar bin ich von den Initiatoren eingeladen, über die Freiheit der Kunst zu sprechen. Hier an diesem Ur-Ort des demokratischen Aufbruchs in die Weimarer Republik vor 105 Jahren. In 12 Tagen wählen wir einen neuen Landtag des Freistaats Thüringen. Viele empfinden dies als eine historische Situation, nicht wenige befürchten einen Kipp-Moment in der Politik. Jedenfalls spüren wir alle, was sonst nur Philosophen wissen: Geschichte ist prinzipiell offen, wenn Gegenwart zu Entscheidungen drängt. Wenn Entscheidungen über unser Leben anstehen, sind wir als Einzelwesen direkt angesprochen – in unserem Ver­mö­gen, frei zu handeln. Immanuel Kant wird dieses Jahr 300, seine Gedanken sind frischer denn je:

„Geschichte ist prinzipiell offen, wenn Gegenwart zu Entscheidungen drängt.“

Nur der Mensch kann Entscheidungen treffen. Das ist keine natürliche Eigenschaft. Er hat sie kulturell erworben. Menschen sind frei, weil ihr Tun nicht nur durch Ursachen, sondern auch durch Gründe und Rechtfertigungen bestimmt ist. Was Menschen menschlich macht, was ihnen unantastbare Würde verleiht, ist ihre radikale Freiheit, sich selbst moralische Gesetze zu geben – und die Pflicht aufzuerlegen, nach ihnen zu handeln.
Kants Schlüssel zur Gattung Mensch sind: Vernunft und Mündigkeit. Nur unsere Spezies wächst mit vernunftbegabtem Denken über die Natur hinaus. Nur wir sind in der Lage, uns selbst und die Welt verstehend zu durchdringen und schöpferisch zu übersteigen. Genau da wurzelt unsere Fähigkeit zu Sehnsucht und Hoffnung, unsere Begabung zu Religion, Kunst und den anderen Systemen, aus denen unsere Existenz Sinn empfängt. Mündigkeit im Selberdenken führt zu verantwortlichem Handeln. Der Mensch ist verantwortlich für die Welt, in der er lebt.

Am 1. September haben wir als Bürgerinnen und Bürger die Wahl. Es gilt, über die lebensprägende Politik der nächsten fünf Jahre in Thüringen zu entscheiden. Die alte Bauhaus-Frage neu gestellt: Wie wollen wir leben und zusammenleben?
Der Mensch ist das, wozu er sich entscheidet. Was an ihm dran ist, stellt sich im Augenblick der Entscheidung heraus. Der Philosoph Helmuth Plessner entdeckt 1931 – mitten in den bürgerkriegsähnlichen letzten Tagen der Weimarer Republik – das Unergründliche als Wesenskern des Menschen. Weil der seine Gründe immer noch vor sich hat, bleibt er sich selbst eine „offene Frage“ – und damit eine offene Frage für andere. Darin liegt das Risiko unserer Freiheit.

Kunst ist Freiheit, sagt Heinrich Böll, der Schriftsteller. „Es kann ihr einer die Freiheit nehmen, sich zu zeigen - Freiheit geben kann ihr keiner; kein Staat, keine Stadt, keine Gesellschaft kann sich etwas darauf einbilden, ihr das zu geben oder gegeben zu haben, was sie von Natur ist: frei.“ Böll zog daraus eine klare Konsequenz:

„Die Kunst muss zu weit gehen, um herauszufinden, wie weit sie gehen darf.“

Diese immanente Freiheit der Künste gilt es heute gegen die Zugriffe der Politik leidenschaftlich zu verteidigen.

Diese immanente Freiheit der Künste gilt es heute gegen die Zugriffe der Politik und die Zumutungen der Gesellschaft leidenschaftlich zu verteidigen und radikal zu verwirklichen. Das ist die einzige politische Verantwortung, die Künstler*innen haben. Alles andere spielt den Vereinfachungsstrategen jeglicher Couleur in die Hände. Denn diese ziehen aus dem Missverständnis, Kunst und Leben seien eine Einheit, Gewinn. Ein Missverständnis übrigens, das Künstler selbst in den 1960er Jahren in die Welt setzten. Ich komme auf den Unterschied der Kunst – das heißt auf ihren Eigensinn – zurück.

Aber erst will ich eine Geschichte erzählen. Aus unserer Antike – dem 20. Jahrhundert der Extreme. Der in Kiew geborene russisch-sowjetische Jahrhundertliterat Michail Bulgakow diktiert 1939 in Stalins Moskau – just während Nazi-Deutschland die Zweite Polnische Republik vernichtet – seiner dritten Frau die letzte Variante von „Meister und Margarita“. Bulgakow stirbt 1940. In der Schublade: seine hochexplosive poe­ti­sche Flaschenpost an die Nachwelt. Die phantastisch-philosophische Parabel über Macht und Ohnmacht der Kunst, über Gut und Böse und den Sieg der Liebe, ist auch eine Realsatire auf die sowjetische Literatur-Bürokratie, die Bulgakow in die Katastrophe stürzt.

Der Roman gipfelt in einer Wette mit dem Satan um die Seele des Meisters. (Ein Schelm, der Goethe dabei denkt und Gogol vergisst.) Margaritas Hexenflug über Moskau ist Befreiung und Rache zugleich – ein dichterischer Schachzug von welt­li­te­ra­ri­schem Rang. Er erlaubt es Bulgakow, den Terror Stalins künstlerisch in den Griff zu kriegen und dessen Untergang zu prognostizieren – exakt 1945.

1966 erst erscheint das Meisterwerk in einer Literaturzeitschrift. Es löst ein Erdbeben aus. 150.000 Exemplare sind binnen weniger Stunden ausverkauft. Leser lernen den Text auswendig, zensierte Teile werden handschriftlich verbreitet. Das Buch wird zum Welterfolg. Kürzlich wuchs das Deutsche Nationaltheater Weimar mit einer traumhaften Inszenierung von Luise Voigt über sich hinaus.

Margaritas Vogelflug in die Freiheit und der stereoskopische Überblick des Teufels aus transzendentaler Höhe erlauben Bulgakow die literarische Generalabrechnung mit seiner Gegenwart – ohne in platten Allegorismus abzugleiten. Und genau darin liegt die unendliche Deutungsgeschichte des Romans begründet.

Zur faszinierenden Dialektik der Kunst gehört, dass ihre immer wieder neu ent­flamm­ba­re Aktualität – ganz gleich ob Musik, Malerei oder Weltliteratur – gerade in ihrer unauslotbaren Unzeitgemäßheit wurzelt. Das ist die Grundvoraussetzung dafür, dass Werke zu Klassikern werden.
Wie Goethe, weiß Bulgakow zugleich mehr und weniger als er sagt. Beide schreiben konsequent multispektral. Vierfacher Schriftsinn blendet sich ka­lei­do­sko­par­tig ineinander: historisch-realistisch – allegorisch –  moralisch – utopisch: Prinzip Hoff­nung.
Bulgakow, ein existentiell Ausgesetzter, fängt die flüchtige Atmosphäre der Auf­lö­sung des Menschen unter einem eskalierenden Terrorsystem ein: „Aber der Henker ist nicht so schrecklich wie das unnatürliche Licht, das von einer Wolke ausgeht, die sich brodelnd über die Erde wälzt, wie es nur bei Weltkatastrophen zu sein pflegt.“

Das Irrlichtern hochverdichteter Kunst lässt sich auf keinen Nenner bringen. Genau das spricht uns als Einzelne ganz persönlich an: „Du musst Dein Leben ändern.“ Kraft der Eigengesetzlichkeit ihrer Sprachen entzieht sich Kunst der Vereinnahmung durch Vereinfachungsstrategen. Dank ihrer unergründlichen Kraft zu Phantasmagorien ohne platten Allegorismus verweigern Künstler und Künste die Indienstnahme von Politik und Gesellschaft. Keine Ausdeutung erschöpft ihre Werke.
Daher können diese lebensrettend auch in ganz anderen Epochen sein.

2008 zeigt Bulgakow dem Historiker Karl Schlögel den Rettungsweg zur Na­vi­ga­ti­ons­struk­tur für sein wissenschaftliches „Narrativ der Gleichzeitigkeit“. So kann Schlögel das Problem der historischen Simultanität bewältigen. Denn nichts weniger will in linearer Sprache ausgedrückt sein als das: Stalins Terror war viel mehr als eine Staatsaktion, er war Verhängnis, improvisiertes Nothandeln, schockartiger Einbruch in Menschenleben, Angst und Totalerschöpfung. Die Vergegenwärtigung dieser komplexen Matrix in einem synthetischen, nicht-ideologischen Zugriff ist für den Historiker ein verpflichtendes und gefährliches Geschäft: „Mit den Toten ver­ant­wort­lich umzugehen, ist… mein Job – nicht, eine Lehre zu vermitteln, sondern mir eine Situation zu vergegenwärtigen… wir verbrennen dabei.“

So bin ich bei den Institutionen der Wissenschaft und Kultur gelandet. – Liebe Leute, wir leben auf den Trümmern unserer Geschichte. Nicht nur die Kunst ist frei – auch die Trümmerhüter und Gedächtnisproduzenten sind es. Wir partizipieren und profitieren von der Freiheit der Kunst.

„Aber Achtung! Kultur ist nicht Kunst.“

Kunst zielt auf Wahrnehmung. Kultur trainiert Differenzierung und Urteilskraft. Geistesgegenwärtige Museen und Archive fördern aus den Bergwerken ihrer Speicher Orientierungswissen für das Hier und Heute. Sie stellen öffentliche Räume, dritte Orte, zur Verfügung, dieses Wissen angstfrei zu diskutieren, was auch heißen kann: es zu zerlegen und wieder zusammenzubauen. Auch so kommt Neues in die Welt.

Kultur ist nicht Kunst. Aber Kultur ist andererseits auch nicht der Staat, selbst wenn sie staatlich finanziert ist. Sie muss offener, widersprüchlicher, radikaler sein (dürfen). Kulturproduktion ist nicht an die Regeln der Politik gebunden, auch wenn sie auf Politik angewiesen bleibt. Der demokratische Rechtsstaat hat sie von politischen Repräsentations- und Offenbarungspflichten entbunden. Nur wenn Kul­tur­in­sti­tu­tio­nen den Mut aufbringen, diese Freiheit auch zu nutzen, können sie gute Gastgeber für die Begegnung der Künste mit den Menschen sein. Wenn Kulturinstitutionen die Künste in ihrer Unauslotbarkeit mit Menschen in ihrer wesensmäßigen Un­er­gründ­lich­keit zusammenbringen, stellen sie das Glück der kurzschlussartigen Vergegenwärtigung des Zündstoffs Freiheit, den die Werke bergen, in jedem und jeder von uns her.   

Das aber setzt voraus, dass Kunst eben Kunst bleibt „und alles andere alles andere“ ist, wie es Ad Reinhardt, Farbfeldmaler in New York, ausdrückte. Oder in den Worten von Otto Dix, dem großen kritischen Realisten aus Gera, Ostthüringen: „Ich mal‘ weder für die noch für die. Tut mir leid. Ich bin eben ‘n derartig souveräner Prolete…“

Kunst entsteht nicht aus moralpolitischer Vernunft. Sie ist keine Richterin. Zwar kann Kunst durchaus politisch gemacht und verstanden werden – und muss sich dann prompt den öffentlichen Streit darüber gefallen lassen, wie uns die aktuellen De­bat­ten zeigen. Aber für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist sie trotzdem nicht verantwortlich. Kunst kann keine kulturellen, sozialen oder politischen Wunden heilen. Das ist Überforderung und Unterforderung zugleich. Was Kunst aber kann und mit vollem Risiko in aller Konsequenz tun soll, ist: mit der Macht der Phantasie Grenzen sprengen und Horizonte öffnen – die Deutungslust und Sinn-Sehnsucht der Spezies Mensch entzünden – die Glut unserer Leidenschaft und Hoffnung wachhalten.
Halten wir fest: Kunst ist nicht Politik. Kunst ist nicht Moral. Kunst ist frei. Doch kann sie zum Spielball von Politik werden, zum Schlachtfeld von Deutungskämpfen, die Machtgefechte um kulturelle Hegemonie sind. Gerade deshalb müssen wir in Zeiten der allgegenwärtigen Kulturalisierung der Politik und Politisierung von Kunst und Kultur auf Distanz und Differenzierung großen Wert legen.

Was fangen wir jetzt an mit diesen Erkenntnissen? Mein Lieblingsphilosoph Odo Marquard hat Plausibles in petto: „Vernünftig ist, wer den Ausnahmezustand meidet.“ Er mahnt „Mut zur Bürgerlichkeit“ an. Das muss nicht jeder gut finden. Aber vielleicht können wir uns darauf einigen, am 1. September und danach unsere Freiheit zu verteidigen, skeptisch bleiben zu dürfen. Plädieren wir für Liberalität und Empathie. Denn das bedeutet: Kompromiss statt Kampf, Ironie statt Pathos, Alltag statt Extreme. Hüten wir das Individuelle in uns und das Regellose der Kunst, das uns beim Überleben hilft.  Sorgen wir dafür, dass Aufklärung nicht zum emanzipatorischen Radikalismus führt, sondern in die Skepsis. 

Dazu brauchen wir unsere leibhaftigen Erfahrungen – miteinander und mit der Welt. Und jede Menge fremder Geschichten, die gegen Uniformierung Widerstand leisten. Romane, Gemälde und Tänze, Archive, Museen und Theater können helfen, unsere Denkhorizonte und Handlungsräume zu weiten, Problemlösungen lebenstauglicher, unsere Urteilskraft menschlicher zu machen. Sie ermutigen zur Entlastung vom Absoluten, für das wir Menschen nun mal nicht taugen.

Und trotzdem soll Kant das Schlusswort haben, uns allen auf den Weg:

„In prekären Lebenslagen gibt es die Pflicht zur Zuversicht.“