Für viele das Urbild des deutschen (Garten-)Hauses, für Goethe ein Rückzugsort, © Klassik Stiftung Weimar

Essay von Christoph Schmälzle

Utopien der Sesshaftigkeit

31.03.2023 8

Goethe verlieh seinem Wohnhaus mit dem Bau einer Treppe Grandezza. Van de Velde gestaltete das Nietzsche-Archiv neu. Ein Essay über bürgerliches Wohnen von der Goethezeit bis zum Bauhaus.

Weimar ist berühmt für seine historischen Wohnhäuser: allen voran Goethes Gartenhaus und das Haus am Frauenplan, das Schiller-Haus, das Wielandgut Oßmanstedt – aber auch das Liszt-Haus, das Nietzsche-Archiv, das Haus Hohe Pappeln und das Haus Am Horn. Diese Häuser bilden, wenn man so will, ein Alleinstellungsmerkmal der Klassikerstadt. Residenzkultur kann man in Thüringen gut andernorts sehen. Wer bürgerliches Wohnen von der Goethezeit bis zum Bauhaus erleben will, muss nach Weimar kommen.

 Von ihrer Gründungsgeschichte her adressieren diese Häuser-Museen nicht in erster Linie das Thema Wohnen, sondern die Spuren, die ihre namensgebenden Bewohner hinterlassen haben. Es sind personenbezogene Erinnerungsorte, mit Ausnahme des für die Bauhaus-Ausstellung im Jahr 1923 errichteten (Muster-)Hauses Am Horn. Im Zentrumsteht die von Voyeurismus nicht ganzfreie Frage, wie die herausgehobenen Vertreter der Weimarer Kulturgeschichtegelebt haben – und zwar vom Schreibtisch bis zum Sterbebett. Was wir heute davon noch besitzen, ist freilich nurmehr oder weniger authentisch und Gegenstandmusealer Inszenierung.

Trotzdem weist vieles, was in den vormaligen Wohnräumen gezeigt wird, über den Personenkult des 19. Jahrhunderts hinaus. Die Interieurs spiegeln eine lange Tradition des Nachdenkens über Wohnkultur in Weimar: vom „Journal des Luxus und der Moden“, das von 1786bis 1827 im Verlag von Friedrich Justin Bertuch erschien, bis hin zum Bauhausmit seinen weitreichenden Gestaltungsutopien. An diese Vorbilder schließen bis heute sowohl die Bauhaus-Universität wie die Klassik Stiftung Weimar an.

Residenzkultur kann man in Thüringen auch andernorts sehen. Wer bürgerliches Wohnen von der Goethezeit bis zum Bauhaus erleben will,muss nach Weimar kommen

Wohnen in Krisenzeiten

Fast alle Wege in Weimar führen zu Goethe: Weit mehr als der unstete Schillerdrückte er der Stadt seinen Stempel auf. Goethe besaß zwei Häuser, die bereits zu seinen Lebzeiten den Charakter von Sehenswürdigkeiten annahmen. Bald nach seiner Ankunft in Weimarbezog er das Gartenhaus im Park an der Ilm. Ab 1782 mietete er einige Zimmerin einem repräsentativen Barockbau am Frauenplan, den er zehn Jahre späterer warb. In diesem Haus sollte Goethemehr als die Hälfte seines Lebens verbringen– eine keineswegs selbstverständliche Kontinuität.

Aus heutiger Sicht mag die in Goethes Häusern verkörperte Privilegiertheit irritieren. Denn die beiden Immobilienwaren letztlich Geschenke des Herzogs. Angesichts steigender Energie- und Immobilienpreise neigen wir dazu, Wohnen primär als finanzielles Problem und Teil der sozialen Frage zu betrachten. Dafür gibt es gute Gründe, doch zugleich verfehlt ein rein ökonomischer Ansatz die inhaltliche Dimension des Themas. Wer über Häuser spricht, meint implizit meistens Utopien und Ängste: Wie wollen wir leben? Was vermittelt uns Sicherheit in einer gefährlich instabilen Welt?

Krisenhafte Wohnerfahrungen waren dem Geheimrat keineswegs fremd. Als Kind erlebte er im Siebenjährigen Krieg die Einquartierung eines hochrangigen französischen Militärs in seinem Elternhaus. Bei aller Ironie, die Goethes literarische Schilderung dieser Zeit in Dichtung und Wahrheit auszeichnet, bleibt unbestritten, wie sehr die häusliche und familiäre Ordnung durch diesen Vorgangerschüttert wurde. Eine viel elementarere Bedrohung war dann die Plünderung Weimars nach der Schlacht von Jena und Auerstedt am 14. Oktober 1806. Zu Tode erschrocken heiratete der Dichter seine Lebensgefährtin Christiane Vulpius: Auf Chaos folgte der Wille zur Ordnung.

Wie ein antiker Tempel liegt das Römische Haus am Rand des Parks an der Ilm, © Marcus Glahn

Bauen im Bestand

Einige der berühmtesten Wohnräume des klassischen Weimars sind im Kontext bestehender Bauten entstanden. Seine zwei Immobilien passte Goethesystematisch den eigenen Bedürfnissen an, ohne je von Grund auf neu zu bauen. Am bekanntesten ist sicher die große Treppe, die er nach seiner Italienreise im Haus am Frauenplan einbauen ließ, um dem verwinkelten Palais mehr Grandezza zu verleihen. Mit dem sogenannten Brückenzimmer schuf er eine direkte, visuell großzügige Verbindung von Vorder- und Hinterhaus und zum Garten.

In ähnlicher Weise optimierte Schillersein Arbeitszimmer. Neben dem Schreibtisch wurde ein zusätzliches Fenster in die Giebelwand gebrochen. Die von Henry van de Velde gestaltete Schauseite des Nietzsche-Archivs mit dem emblematischen Portal und dem Jugendstilsalon kaschiert einen konventionellen Bestandsbau, den Elisabeth Förster-Nietzsche unter großen finanziellen Anstrengungen erworben hatte. Was heute unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten diskutiert wird, folgt in der Geschichte einer pragmatischen Logik. Vorhandene Bausubstanz wird nicht beseitigt, sondern funktional angepasst und gegebenenfalls ästhetisch überformt. Bauen im Bestand ist mit dem Bedürfnis nach Selbstinszenierung durchaus vereinbar.

Die radikalen Programmhäuser der Avantgarden, die neben ihrem Nutzwert immer auch Diskursbeiträge sind, fanden ihren Platz eher an den Rändern des längst verdichteten urbanen Raums. Henry van de Veldes eigenes Wohnhaus, das konsequent vom Volumen der Innenräume her gedachte Haus Hohe Pappeln, steht an der Straße nach Belvedere. Das karge (Muster-)Haus Am Horn befindet sich auf der der Stadt abgewandten Seite des Parks an der Ilm. Es ist der Urahn der omnipräsenten Neubau-Bungalows im Bauhaus-Stil, die sich wie Jahresringe um unsere Städte legen.

Obwohl Goethe als Privatmann kein Haus im landläufigen Sinn neu gebaut hat, wirkte er als Experte an Bauprojektenseines Fürsten mit. Er war Mitglied der Schlossbaukommission, die einen neoklassizistischen Nachfolger für das1774 abgebrannte Stadtschloss errichten sollte. Wesentliche Impulse lieferte er für das Römische Haus, das Carl August als Sommersitz diente, auch wenn vor Ort so gut wie nichts mehr an die frühere Nutzung zu Wohnzwecken erinnert.

Die ungewöhnliche Form des Hauses Hohe Pappeln ergibt sich aus den Innenräumen, © Klassik Stifung Weimar

Elitäre Wohnpraxis

Goethes Wohnpraxis umfasste ausheutiger Sicht konträre, einander ausschließende Optionen. Statt sich entscheiden zu müssen, hatte er stets die Wahl zwischen verschiedenen Formender Häuslichkeit. Mit dem Gartenhausverfügte er über eine allein liegende, ästhetisch konservative Immobilie im Grünen, die er bis ins hohe Alter als Rückzugsort nutzte. Noch 1830 wurden im Eingangsbereich Kieselmosaike verlegt und das weiße Gartentor errichtet. Das Haus am Frauenplan dagegen ist ein klassisches Stadthaus in belebter Lage, das mehrere Funktionen erfüllte: Es war Familienwohnsitz, Wirtschaftsgebäude und Arbeitsplatz, es beherbergte Goethes Sammlungen und diente der gesellschaftlichen Repräsentation. Den vielfältigen Nutzungen entsprach eine starke funktionale Binnengliederung. Ein großer Teil der Beletage war der Familie vorbehalten. Gäste empfing Goethe in eigens dafür vorgesehenen Räumen. Zugang zu Goethes Arbeitsbereich im Hinterhaus hatte nur ein ausgewählter Personenkreis.

Nach dem Tod seiner Frau im Jahr1816 zog sich Goethe mehr und mehr aus dem Vorderhaus zurück, das zeitweisegar nicht mehr geheizt wurde. Aus den verwaisten Wohnräumen wurden Sammlungszimmer. Die schriftstellerische Arbeit fand ohnehin im ruhigeren Hinterhaus statt. Hier hatte sich Goethe für seine arbeitsteilige Hauskanzleiideale Bedingungen geschaffen. Im Unterschied zu den nur wenige Schritte entfernten Repräsentationsräumen ist dieser Bereich von betonter Schlichtheit. Gegenüber Eckermann erklärte der Hausherr 1831: „Eine Umgebung von bequemen geschmackvollen Möbeln hebt mein Denken auf und versetzt mich in einen behaglichen passiven Zustand.“

Spätere (Museums-)Besucher haben die Kargheit der Arbeitsumgebung Goethes bisweilen als enttäuschend und dem Genius unangemessen beschrieben. Zu groß ist die Kluft zwischen dem Klischee des Dichterfürsten und seiner realen Lebenswelt. Dabei sind es gerade die Brüche zwischen den verschiedenen Zonen des Hauses, die Aufschluss über den Alltag seiner früheren Bewohner geben.

„Eine Umgebung von bequemen geschmackvollen Möbeln hebt mein
Denken auf und versetzt mich in einen behaglichen passiven Zustand“

Leben im Museum

Goethe sah die postume Musealisierung seiner Häuser nicht vorher. Sein Testament diente in erster Linie der Versorgung der drei minderjährigen Enkel, die mit ihrer Mutter im Haus am Frauenplan wohnten. Nur die Sammlungen wollte Goethe als Ganzes bewahrt wissen, am besten durch den Verkauf an eine öffentliche Institution. Die Immobiliensollten vorerst weiter genutzt, perspektivisch aber veräußert werden. Das entsprach der üblichen Praxis.

Die Sonderstellung, die Goethes Testamentseinen Manuskripten, Büchern, Kunstwerken und Naturalien zuweist, ist folgenreich: Einerseits lebte die Familie weiter im Haus am Frauenplan, andererseits unterstanden die Sammlungen einem Kustos, der den Schlüssel zum Arbeits- und Sterbezimmer verwahrte. Der Konflikt zwischen den Wohnbedürfnissender Erben und dem Verehrungsverlangender Nachwelt löste sich erst mit dem Tod von Goethes letztem Enkel, der das Ensemble dem Staat vermachte.

Somit wurden nicht nur die Sammlungen, sondern auch das Gebäude und der Hausrat einer weiteren ökonomischen Verwertung entzogen. Grundsätzlich brauchbare Dinge verwandelten sich zu sakrosankten Zeugnissen desnationalkulturellen Heldengedenkens. Im Unterschied zu den ersten Schillerhäusern, die Mitte des 19. Jahrhunderts in privater Trägerschaft entstanden, war die Zeit 1885 reif für die Gründung des Goethe-Nationalmuseums. In der Fläche verbreiteten sich solche staatlich finanzierten Personalmuseen im Rahmendes Museumsbooms der 1980er- und1990er-Jahre. Es entstand eine kleinteilige Welt musealisierter Prominentenwohnungen, deren Zukunft offen ist.

Selbst das Haus am Frauenplan, immerhin Teil des UNESCO-Weltkulturerbes, wirft Fragen auf. Teile der Inszenierung sind nicht mehr zeitgemäß.2025 wird die Klassik Stiftung Weimarihre Pläne für eine Neukonzeption des Goethe-Nationalmuseums vorstellen.

Zu DDR-Zeiten wurde der Schriftzug „Nietzsche-Archiv“ aus politischen Gründen von der Fassade entfernt, © Klassik Stiftung Weimar

Goethes Wohnhaus am Frauenplan ist vielschichtiger, als die Fassade vermuten lässt, © Klassik Stiftung Weimar

Wohnungsnot und Kulturpolitik

Die Sinnfrage stellte sich bei den durch den Nationalsozialismus vereinnahmten Heroen der Nationalkulturschon 1945. Das Kulturerbe lag buchstäblich in Trümmern. In Frankfurt am Main kam es zu einer intensiven Debatte über den Wiederaufbau von Goethes Elternhaus. In Weimar wurden die schweren Bombenschäden am Haus am Frauenplanmit sowjetischer Unterstützung umgehend und ohne Rücksicht auf die knappen Ressourcen beseitigt. Das Goethejahr1949 stand bevor, und man instrumentalisierte die Weimarer Klassiker erneut. Aufgrund ihrer fortschrittlichen Ideen galten sie nun als Wegbereiter dessozialistischen Humanismus.

Wo der Nutzen für die sozialistische Ideologie weniger nahelag, fiel die Abwägung zwischen Wohnungsnot und Kulturpolitik pragmatisch aus: Im Nietzsche-Archiv wohnte zeitweise ein Kulturbund-Funktionär, das Haus Am Horn wurde bis in die 1990er-Jahre privatgenutzt. Auch das Schillerhaus in Rudolstadt und das Naumburger Nietzsche-Haus waren bis zur Wiedervereinigung bewohnt, bevor sie zu kommunal finanzierten Personengedenkstätten transformiert wurden.

Erstaunlicherweise hat es der Popularität von Goethes Gartenhaus nichtgeschadet, dass es in den Kulturkämpfender Weimarer Republik zum Urbild eines deutschen Hauses idealisiert und gegen das Haus Am Horn in Stellung gebracht wurde. In der DDR tat man sich langeschwer mit dem Bauhaus, das im Westen zum Sinnbild einer programmatisch modernen Gesellschaft verklärt wurde. Heute ist Bauhaus-Stil primär ein Marketingbegriff von Immobilienentwicklern, um ihre bis zur Gesichtslosigkeit rationalisierten Häuser zu verkaufen.

In der Straße Am Horn entstand 1923 der Prototyp für ein seriell gefertigtes Einfamilienhaus, © Klassik Stiftung Weimar, Fotograf: Thomas Müller

Klugheit der Klassiker

Das goethezeitliche Weimar war eine15-Minuten-Stadt, eine Viertelstunde zu Fuß reichte aus für alle relevanten Wege. Moderne Arbeitswege sind länger, und nicht alle Dienstleistungen lassen sich problemlos dezentralisieren. Erst durch die Pandemie fanden viele räumlich getrennte Funktionen digital wieder zusammen. Das schärfte nicht zuletzt den Blick für ein Problem, das sich bereits Goethe und Schiller stellte: Wie lassen sich konzentrierte Arbeit und Familienleben auf engem Raum verbinden?

Entsprechend schauen wir mit neuem Interesse auf die historischen Wohnhäuserin Weimar. Wie strukturierte deren Gestaltung das Miteinander von Leben und Arbeit? Inwiefern trugen die meistmaßgefertigten Möbel zum Funktionierendes Alltags bei? Angesichts der Herausforderungen der umfassenden Zeitenwende, in der wir stehen, ist jede Form von Klugheit recht – auch die der längst verblichenen Klassiker.

Auch spannend