
Von Frankfurt nach Weimar
Restitution von NS-Raubgut
Zum 100. Todestag Johann Wolfgang Goethes veröffentlichte der Schweizer Germanist Robert Faesi 1932 einen Vortrag. Ein in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek vorhandenes Exemplar wurde im Herbst 2024 an die Erben eines NS-Verfolgten restituiert. Ein Bericht über die Provenienzgeschichte des Bandes aus Anlass des 193. Todestages des Klassikers und zugleich eine Erinnerung an einen bedeutenden Kunsthistoriker des 20. Jahrhunderts.
Das Jahr 1932 war ein „Goethe-Jahr“. Der 100. Todestag des Dichters gab den Anlass für umfangreiche Aktivitäten. Nicht nur in den Goethe-Städten Weimar und Frankfurt am Main wurden vom Reichsinnenministerium koordinierte staatsoffizielle „Gedächtniswochen“ inszeniert. Auch an vielen anderen Orten in ganz Deutschland wurde das „Goethe-Jahr“ mit Festveranstaltungen, Ausstellungen, Theateraufführungen, Konzerten, Lesungen und Vorträgen gefeiert. Das mediale Echo war nicht weniger beachtlich. Dazu trugen die zu dieser Zeit noch relativ neuen Medien Film und Rundfunk ebenso bei wie zahlreiche Publikationen unterschiedlichster Art.
Einen vergleichsweise kleinen Beitrag lieferte der Schweizer Germanist und Schriftsteller Robert Faesi (1883–1972). Zum Todestag am 22. März veröffentlichte er eine schmale Broschüre mit dem Titel Der gegenwärtige Goethe. Sie enthält die für den Druck aufbereitete Fassung eines Festvortrags, den Faesi im Jahr zuvor anlässlich des Geburtstags des Dichters am 28. August im Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt am Main gehalten hatte. In seinem Text preist Faesi Goethes Leben und Werk als Fixpunkte in einer unübersichtlich gewordenen modernen Welt und als vorbildhafte Einheit für eine Gegenwart, die er von „der Gefahr von Zerfall und Auflösung“ bedroht sieht. Der Autor erweist sich hier als Vertreter einer kulturkonservativen Sicht auf Goethe wie auch auf seine eigene Zeit.

Robert Faesi: Der gegenwärtige Goethe. Frauenfeld u. Leipzig 1932. Vorderer Deckel des Exemplars, HAAB-Sign. Goe 5089 [c], © Klassik Stiftung Weimar
Seinen Ausführungen hat Faesi eine Zueignung vorangestellt:
„Meinem Freund Julius Schmidhauser gewidmet“.
Der Philosoph Julius Schmidhauser (1893–1970) war von 1919 bis 1923 Sekretär des Schweizerischen Schriftstellerverbandes, dem Faesi in diesen Jahren als Präsident vorstand. Schmidhauser gilt als einer der Vordenker der mit dem italienischen Faschismus und dem deutschen Nationalsozialismus sympathisierenden rechten schweizerischen „Frontenbewegung“ der 1930er Jahre.
Im Bestand der Herzogin Anna Amalia Bibliothek findet sich ein besonderes Exemplar der Publikation. Neben der gedruckten Widmung für Schmidhauser enthält es eine handschriftliche Widmung:
in dankbarer Erinnerung an den 27. August 1931
der Verfasser.“

Handschriftliche Widmung auf dem Titelblatt, © Klassik Stiftung Weimar
Bei den Widmungsempfängern handelt es sich um den damaligen Generaldirektor der Museen der Stadt Frankfurt am Main, Professor Dr. Georg Swarzenski, und seine zweite Ehefrau Marie Swarzenski. Georg Swarzenski (1876–1957) gehörte zu den herausragenden Vertretern eines weltoffenen liberalen Frankfurter Kultur- und Bildungsbürgertums. Der innovative Kunsthistoriker und erfolgreiche Museumsfachmann genoss hohes Ansehen. Er war in der Stadt und darüber hinaus bestens vernetzt. Auch dem Freien Deutschen Hochstift, dem Trägerinstitut des Frankfurter Goethehauses und des zugehörigen Museums, war er als Mitglied des Verwaltungsausschusses eng verbunden.
Die Widmung verweist darauf, dass Robert Faesi am Vortag seines Goethe-Vortrags im Hochstift im August 1931 mit dem für seine Gastfreundlichkeit bekannten Ehepaar Swarzenski zusammengetroffen war. Das wird auch durch eine Postkarte bestätigt, die sich im Nachlass Faesis in der Zentralbibliothek Zürich erhalten hat. Georg Swarzenski sandte ihm im Juni 1932 damit einen „herzlichen Dank für die freundl. Zusendung Ihres schönen Vortrags, der auch uns an das Zusammensein in Frft. [Frankfurt] erinnert“.
Die gedruckte Widmung des konservativen Germanisten Faesi für den befreundeten rechten Philosophen Schmidhauser und seine handschriftliche Widmung für das liberale Ehepaar Swarzenski zusammen in einem Band über Goethes Bedeutung für die Gegenwart der frühen 1930er Jahre – hier offenbart sich die (kultur-)politische Komplexität und Unübersichtlichkeit der damaligen Zeit, verdichtet auf wenigen Seiten Papier. Nur Monate später übernahmen die Nationalsozialisten die Macht in Deutschland und begannen umgehend damit, diese Komplexität mit brutalen Mitteln zu reduzieren. Das sollten auch die Swarzenskis zu spüren bekommen.
Der in Dresden geborene Jurist und Kunsthistoriker Georg Swarzenski hat das kulturelle Leben der Stadt Frankfurt am Main über drei Jahrzehnte lang entscheidend geprägt. Nach dem Studium in Heidelberg und Berlin, nach Promotion, Habilitation und beruflichen Stationen an Museen in Florenz und Berlin wurde er 1906 Direktor des Städelschen Kunstinstituts in Frankfurt am Main, kurz Städel genannt. Ab 1907 leitete er zudem die neu gegründete Städtische Galerie im Städel. 1909 wurde er zusätzlich Direktor der von ihm aufgebauten Städtischen Skulpturensammlung im Liebighaus. Ab 1914 wirkte er auch als Honorarprofessor für Kunstgeschichte an der gerade eröffneten neuen Frankfurter Universität. Zusammen mit den Kunsthistorikern Gustav Pauli und Karl Koetschau gehörte Georg Swarzenski zu den Initiatoren des 1917 in Frankfurt am Main gegründeten Deutschen Museumsbundes, der bis heute die Interessen der Museen in Deutschland vertritt. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere wurde Swarzenski 1928 zum Generaldirektor der Frankfurter Museen ernannt.

Georg Swarzenski, 1932, © Hugo Erfurth

Aufgrund seiner jüdischen Herkunft gehörte Georg Swarzenski zu den ab 1933 durch das NS-Regime Verfolgten. Marie Swarzenski, die Tochter des Frankfurter Unternehmers, Kunstsammlers und Kommunalpolitikers Viktor Mössinger, war nicht jüdischer Herkunft. Als Ehefrau war sie jedoch unmittelbar von den gegen ihren Mann gerichteten Verfolgungsmaßnahmen betroffen. Bereits 1933 wurde Swarzenski als Generaldirektor der Städtischen Museen entlassen. Die Universität Frankfurt entzog ihm die Professur. Er blieb zunächst weiterhin Direktor des von einer privaten Stiftung getragenen Städel. Ende 1937 verlor er auch diese Position. Weitere Repressalien folgten. Die Swarzenskis entschlossen sich deshalb, Deutschland zu verlassen. Anfang September 1938 emigrierten Georg und Marie Swarzenski mit ihren Söhnen Wolfgang Victor und Wilhelm Gottfried in die USA. Auch Johannes (Hanns) Swarzenski, Georg Swarzenskis Sohn aus der Ehe mit seiner ersten, 1915 verstorbenen Frau, emigrierte dorthin. Die ebenfalls aus der ersten Ehe stammende Tochter Uta Elisabeth Swarzenski lebte seit 1930 in Amsterdam. Sie war während der deutschen Besetzung der Niederlande im Zweiten Weltkrieg ab September 1942 im Konzentrationslager Westerbork interniert. Im September 1944 wurde sie nach Theresienstadt deportiert. Dort gelang es ihr, den Holocaust zu überleben. Nach der Befreiung Theresienstadts und dem Ende des Krieges kehrte sie in die Niederlande zurück.
In den USA arbeitete Georg Swarzenski ab 1939 als Fellow for Research in Medieval Art and Sculpture am Museum of Fine Arts in Boston. Auch sein Sohn Hanns, ebenfalls ein versierter Kunsthistoriker, war ab 1948 dort tätig. Georg Swarzenski widmete sich dieser Aufgabe bis ins hohe Alter und ging erst 1956 in Pension. Er starb 1957 in Brookline, einer Nachbarstadt Bostons. Marie Swarzenski starb 1967.
Der Band mit Robert Faesis handschriftlicher Widmung für das Ehepaar Swarzenski gab den Anlass, sich genauer mit dessen Verfolgungsschicksal zu befassen. Denn entdeckt wurde die Widmung im Rahmen eines Provenienzforschungsprojekts, in dem die Erwerbungen der Vorgängerinstitutionen der Klassik Stiftung Weimar aus den Jahren 1933–1945 systematisch hinsichtlich eines Verdachts auf einen NS-verfolgungsbedingten Entzug überprüft wurden. Im Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden überlieferte Akten geben Auskunft darüber, dass die Emigration der Swarzenskis aufgrund von Zwangsabgaben wie der sogenannten Reichsfluchtsteuer mit erheblichen Vermögensverlusten verbunden war. Teile der Wohnungseinrichtung konnte die Familie als Umzugsgut in die USA mitnehmen. Ob dazu auch Bücher gehörten, geht aus den Quellen nicht hervor. Es findet sich darin aber ein Hinweis, dass Georg Swarzenski seiner Tochter Uta in Vorbereitung der Emigration ein kleines Konvolut Bücher nach Amsterdam übersenden wollte und dies beim Finanzamt Frankfurt anmelden musste. Der Vorgang lässt die Vermutung zu, dass das Ehepaar Swarzenski sich auch von weiteren Buchbeständen trennte, bevor es Deutschland verließ.
Das Widmungsexemplar gelangte erst einige Jahre später in den Weimarer Bibliotheksbestand. Es wurde im Dezember 1942 durch die Thüringische Landesbibliothek erworben, eine Vorgängerinstitution der heutigen Herzogin Anna Amalia Bibliothek. Im Zugangsbuch der Landesbibliothek ist „Oehler, Weimar / durch Hempe“ als Lieferant angegeben.
Bei „Hempe“ handelt es sich um den Antiquar Lothar Hempe (1886–1967), der in den 1930er Jahren für Ludwig Thelemanns Buch- und Kunsthandlung in Weimar tätig war. Nach zwischenzeitlichen Stationen an anderen Orten, darunter auch Frankfurt am Main, kehrte er 1942 nach Weimar zurück und führte dort ein eigenes Antiquariat. 1949 verließ er die Stadt erneut und lebte dann bis zu seinem Tod in der Bundesrepublik. Im Rahmen der Provenienzrecherchen an der Klassik Stiftung Weimar wurde Hempe in mehreren Fällen als Lieferant von NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgütern in den 1940er Jahren ermittelt, darunter auch in einem weiteren prominenten Fall aus Frankfurt am Main.
Die im Zugangsbuch der Landesbibliothek ebenfalls angegebene Provenienz „Oehler, Weimar“ ließ sich nicht eindeutig identifizieren. Sie gibt Anlass für Spekulationen. Handelt es sich dabei um den seinerzeitigen Leiter des Weimarer Nietzsche-Archivs Max Oehler? Dessen Bruder Richard Oehler war Direktor der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main und in dieser Funktion an der Verwertung NS-verfolgungsbedingt entzogener Buchbestände beteiligt. Bücher aus einem solchen Bestand konnten bereits in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek identifiziert werden. Ist auch Der gegenwärtige Goethe auf diesem Weg von Frankfurt nach Weimar gekommen? Was diesen Zusammenhang betrifft, besteht noch weiterer Forschungsbedarf.
Auch wenn im Fall der Erwerbung des Widmungsexemplars aus der Privatbibliothek des Ehepaars Swarzenski nicht alle Details geklärt werden konnten, führten die Rechercheergebnisse zu der Einschätzung, dass der Band NS-verfolgungsbedingt in die Thüringische Landesbibliothek gelangt ist. Die Klassik Stiftung Weimar hat daraufhin die Erben in den USA ausfindig gemacht und kontaktiert, um mit ihnen gemeinsam eine gerechte und faire Lösung zu finden. Der Band wurde an sie restituiert. Zugleich entschieden die Erben, ihn anschließend als Geschenk in Weimar zu belassen. Hierfür gebührt ihnen Dank und Anerkennung! Das Georg und Marie Swarzenski gewidmete Exemplar steht damit für Lesende und Forschende zukünftig weiterhin in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek zur Verfügung.
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