
Weintrauben mit Bärten
Schätze aus der Bibliothek
Werbung, Wunder, Wissenswertes: Einblattdrucke, auch Flugblätter genannt, gehören zu den ersten Massenkommunikationsmitteln. Seit Ende des 15. Jahrhunderts informierten die einseitig bedruckten Blätter über aktuelle Ereignisse aus Politik, Recht und Religion. Wiederum andere priesen besondere Angebote an oder erzählten von mysteriösen Begebenheiten. Besonders eindrucksvolle Exemplare befinden sich im heutigen Bestand der Herzogin Anna Amalia Bibliothek. Buchrestaurator Matthias Hageböck stellt drei davon in einer kurzen Serie vor. *

Einblattdruck „Weintrauben mit Bärten“ von 1580. Herzogin Anna Amalia Bibliothek (Signatur: 19 B 10773)
Im Bestand der Herzogin Anna Amalia Bibliothek befindet sich ein äußerst seltener Einblattdruck. Er wurde 1580 in Nürnberg bei Hans Weygel gedruckt und außer hier in Weimar ist kein weiteres Exemplar in Deutschland nachweisbar. Es gibt lediglich noch einen anderen erhaltenen Druck in der grafischen Sammlung der Zentralbibliothek Zürich.
Das Blatt zeigt auf der rechten Seite einen kolorierten Holzschnitt, auf dem an Zweigen mehrere Weintrauben mit langen Bärten zu sehen sind. Auf der linken Seite befindet sich ein Text. Aus ihm geht hervor, dass die Trauben 1580 vom Weinberg des Tuchhändlers H. Georgen Benatcky bei Prag gelesen wurden. Es folgt ein Gedicht, in dem das Wunderbare der Barttraube gepriesen und vor den Lastern der Trunksucht und der Unkeuschheit gewarnt wird.
Der Frage nach dem wahren Kern beziehungsweise den Hintergründen dieser Meldung widmete sich Konrad Böhner in einem Aufsatz, der 1928 in den Mitteilungen der Bayerischen Botanischen Gesellschaft zur Erforschung der heimischen Flora veröffentlicht wurde. Zum einen geht daraus hervor, dass es bereits 1542 einen Einblattdruck gab, der von einem ähnlichen Fund aus Albersweiler bei Landau berichtete. Darauf folgte 1580 das hier vorgestellte Blatt und 1590 die erste Abbildung der „gebarteten Traube“ in einem Buch und zwar in dem von Bassaeus in Frankfurt am Main gedruckten botanischen Werk Eicones Plantarum. In den folgenden Jahrzehnten gab es immer wieder Meldungen von weiteren Trauben mit Bärten, die an verschiedenen Orten gefunden wurden. Bilder wurden offenbar schon zu diesen Zeiten manipuliert. Böhner beschreibt die Illustration einer bärtigen Traube, die 1615 zu Steinfels bei Weißenburg entdeckt wurde und bei der offensichtlich „eine bartordnende Hand am Werke war“. Der mittlere Teil des Bartes erschien dort unverhältnismäßig lang, während die Seiten deutlich eingekürzt waren.
Böhner berichtet im seinem Aufsatz detailliert davon, wie führende Botaniker bis in das 18. Jahrhundert hinein davon ausgingen, dass es sich bei dem Phänomen tatsächlich um eine besondere Traubenart beziehungsweise um ein Naturwunder handelt. Und dies, obwohl der italienische Arzt Petro Borelli bereits 1670 und in der Folge auch andere anerkannte Gelehrte auf die Möglichkeit einer anhaftenden Schmarotzerpflanze hingewiesen hatten. Auf des Rätsels Lösung geht Böhner am Ende seiner Ausführungen ein: „Es besteht nach allem kein Zweifel darüber, daß es sich bei der Barttraube um gar nichts anderes als um Weintrauben gehandelt hat, an welche „Cuscuta Epithymus Murray sich … angeheftet hatte“.
Der Autor bezieht sich damit auf die Quendel-Seide, ein nachtschattenartiges Gewächs aus der Familie der Windengewächse. Dieser Pflanze fehlen eigene Blätter zur Bildung von Kohlenstoffverbindungen. Deshalb ist sie auf Wirtspflanzen angewiesen, an denen sie rankenartig emporwächst und dabei die in den Einblattdrucken als Bärte beschriebenen dunklen Fäden bildet.
* Der Beitrag ist ursprünglich auf dem Blog der Gesellschaft Anna Amalia Bibliothek erschienen.